Arbeitswelt, Psyche, Handicaps

Kritik an aktuellen Marginalisierungsstrategien und Alternativendiskussion

 

1. Seminar

17./18.10.2014 im Mehringhof, Gneisenaustr.2a

Heute noch normal – morgen schon verrückt?

 
Freitag, 17.10., 19 Uhr:

Verrückt? Stigma und Repression

In dem Vortrag soll der Umgang mit Vorurteilen, Schuldzuweisungen und Diskriminierungen von Psychiatriebetroffenen beleuchtet werden. Welche Rolle spielen dabei Medien und die öffentliche Meinung? Die Betroffenen sind zudem mit Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie und Polizeigewalt konfrontiert, die sogar tödlich enden können. Repressiv wird auch mit wohnungslosen Psychiatriebetroffenen umgegangen, sie sind Zwangsräumungen, Obdachlosenunterkünften oder einer Maßnahmenindustrie ausgesetzt.

 

Samstag, 18.10., 13 Uhr:

Zur Inflation von Diagnosen: Nehmen die „psychischen Störungen“ wirklich zu oder werden nur immer mehr diagnostiziert? Welche Rolle spielt in dem Kontext die Pharmaindustrie?

(David Wichera/AK Psychiatriekritik und Uta Wagenmann/Gen-ethisches Netzwerk)

Immer mehr „normale“ Menschen würden zu Kranken gemacht und dadurch könne das Geld für die „richtig Kranken“ in Zukunft fehlen, so eine in der bürgerlichen Presse weit verbreitete Kritik an der 2013 erschienenen, fünften Neuauflage des Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM). Das DSM wird von der American Psychiatric Association entwickelt und spielt weltweit eine Vorreiterrolle bei der Fortentwicklung psychiatrischer Diagnostik. In der Neuauflage, dem DSM V, wird diese Diagnostik nicht nur ins hohe und ins Kindesalter ausgedehnt , sondern auch qualitativ erweitert: So soll beispielsweise eine „Depression“ diagnostiziert werden können, wenn Trauer länger als zwei Wochen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen anhält.

Die Konstruktion immer neuer psychiatrischer „Krankheiten“ und die Ausweitung von Indikationen hat nicht wenig mit ökonomischen Interessen zu tun – interessanterweise unterhalten 68 Prozent der „ExpertInnen“ in den 13 Arbeitsgruppen, die den DSM V entwickelt haben, finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie.

Dennoch: Die Entstehung von Diagnosen ist komplexer als der Wunsch nach neuen Absatzmärkten. Auch Selbsthilfeorganisationen spielen eine Rolle bei der Konstruktion von Krankheitsbildern. So gibt es zum Beispiel Betroffenenverbände, die dafür kämpfen, dass eine bestimmte Diagnose im DSM aufgenommen wird. Oft geht es ihnen dabei um Anerkennung im Gesundheitssystem und die damit verbundene Berechtigung, Sozialleistungen zu empfangen. Aus einer radikal psychiatriekritischen Sicht besteht das Problem daher nicht allein in ein paar neuen Diagnosen. Vielmehr steht die Abschaffung der Diagnostik an sich und des damit verbundenen Systems auf der Agenda.

In der Veranstaltung werden wir vor dem Hintergrund der Verbreitung von Diagnosen nicht nur die Rolle von Industrie oder Selbsthilfe bei der Konstruktion von Krankheiten näher beleuchten; es wird auch um die Psychologie gehen, und um ihre Wirkmacht in unserem Alltag – und um Möglichkeiten und Grenzen von Aktivismus und Selbsthilfe im kapitalistischen Medizinsystem.

 
Samstag, 18.10., 15 Uhr:

Erfahrungen aus der Beratungspraxis für Psychiatriebetroffene – Erläuterungen zum PschKG
(Christoph Wild/Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt und Götz Renger)

Zunächst berichtet ein Kritiker der herrschenden Psychiatrie über die wichtigsten Probleme, mit denen die Betroffenen konfrontiert und wie sie in Beratungsgesprächen deutlich werden.

Es handelt sich vor allem um die Wohnungsfrage, die Zwangsbehandlungen sowie den Ärger mit dem Jobcenter beim Übergang zur Erwerbsminderungsrente. Auffällig ist auch, dass zunehmend Betroffene wegen Nichtigkeiten in die Mühlen der Forensik geraten. Im Rahmen der Gespräche findet u.a. eine allgemeine Absetzberatung statt (Absetzen von Psychopharmaka).

Mit Änderungen der Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKG) versuchen die Länder den Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts gegen Zwangsbehandlung entgegen- zuwirken. Aber auch die Behinderten- rechtskonvention stellt die Praxis des Vorrangs des Wohls gegenüber dem zum Ausdruck gebrachten Willen des Patienten in Frage. In Berlin versucht die Senatsverwaltung Regelungen zu finden, welche Ärzten und Pflegern Rechtssicherheit zurück geben soll. Das Referat von Götz Renger soll einen Ausblick auf die kommenden Änderungen des Berliner PsychKG geben.

 

2. Seminar

15./17.11.2014 im Mehringhof, Gneisenaustr.2a, und im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str.4

Arbeitswelt und Psyche

 

Samstag, 15.11., 13 Uhr, Mehringhof, Gneisenaustr.2a
Die „Minderleister“: Zur Stigmatisierung von Langzeitarbeitslosen (Diskussion aktueller politischer Konzepte)
(Thilo Broschell)

In dem Vortrag wird es um aktuelle Vorstellungen über den politischen Umgang mit den Langzeitarbeitslosen gehen. Die auf dem Tisch liegenden Vorschläge verschiedener politische Akteure kreisen um die neu einzuführende Kategorie der „Minderleister“ – die in Werkstädten für Behinderte, bei freien Trägern und ggf. auch auf dem ersten Arbeitsmarkt untergebracht werden sollen. Diese Beschäftigungsmaßnahmen basieren auf dem Wegfall des Kriteriums der „Zusätzlichkeit“.  Auch wenn zurzeit der Eindruck überwiegt, als sei die Diskussion ein wenig ins Stocken geraten, gilt es, sich auf diese Entwicklung  vorzubereiten. Denn wenn die politisch Verantwortlichen ihre derzeitige Agenda abgearbeitet haben (Mindestlohn, Rente), stehen neue Reformen an...!

15:30 Uhr
„Plötzlich flog mir der Körper weg!“: Gesellschaftliche Ursachen des Burn-Out-Syndroms
(Wolfgang Ratzel)

„Da, mitten in der Bewegung, fliegt mir der Körper weg!“ – mitten in der Probe halbseitige Lähmung. So beschreibt Sasha Waltz ihre plötzliche Erstarrung. Diagnose: Burn out – ausgebrannter Körper, ausgebrannter Geist, ausgebrannte Seele.

Oder die Geschichte von der immer-und-allzeit bereiten Krankenschwester, die bewegungsunfähig in der Abstellkammer liegt und einfach nur noch heult.

Oder das genaue Gegenteil: Bore out – die Erschöpfungsmüdigkeit aus Unterforderung – Erwerbstätige, die an hirnloser Routine zugrunde gehen - Erwerbslose, die ausbrennen, weil sie sich überflüssig fühlen. Aus welchem Abgrund kommen solche Schreckensszenarien?

Burn- und Bore out stellen einen Körper still, der aus verinnerlichtem Selbstzwang zur Höchstleistung funktioniert und immer weiter, schneller und funktioniert, um das bereits erreichte Optimum noch zu überbieten, denn für dieses Maximum gibt es keine Grenze nach oben. Aber warum gelingt es den Leistungssubjekten nicht, diese Selbstvernichtungsspirale zu stoppen? Weil sie diesen verinnerlichten Selbstzwang zur Höchstleistung als Ausdruck persönlicher Freiheit empfinden. Die Tragik besteht darin, dass kein Chef und keine äußere Instanz befiehlt: „Du sollst Dich überfordern bis zum Umfallen!“ – Tragik: Die Instanz, die solches befiehlt, sitzt im Inneren der Subjekte. Niemand ist „schuld“; niemand ist „verantwortlich“. Alles geschieht in freiwillig-freiheitlichem Selbstzwang.

Der Gesprächsvortrag bettet diese Symptome in die „Denk- und Funktionslogik“ einer Leistungsgesellschaft ein, die jene Verinnerlichung des Leistungszwangs sowohl bewirkt als auch strikt voraussetzt, um an ihr teilhaben zu können.

Woher aber kommt diese Bereitschaft zur freiwilligen Unterwerfung unter Anforderungsprofile die nur durch extreme Selbstausbeutung, ja sogar Selbstaufopferung zu erreichen sind?

Der Vortrag beabsichtigt, Betroffene zu Wort kommen zu lassen, die insbesondere die vielfältigen Gefahren des Rückfalls zur Sprache bringen werden.

Vor allem aber hinterfragt er die gängigen Ratschläge der Burn-out-Prophylaxe, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dass sie vergessen, dass Burn- und Boreout keine Krankheiten sind, die individuell behandelt werden können, sondern dass es auf die „Behandlung“ der Denk- und Arbeitsprozesse ankommen muss, die jenen freiwilligen Selbstzwang zur unendlichen Selbststeigerung hervorbringt und belohnt.

Nicht zuletzt geht es um die Frage, wie unter den Bedingungen der „totalen Steigerungskonkurrenz“ die Inklusion von Menschen bewältigt werden kann, die leicht, schwer oder gar mehrfach gehandicapt sind. Scheitert das Paradigma der Inklusion an den Zwängen der Leistungsgesellschaft? – Oder gibt es eine realistische Hoffnung, dass allgemeinverbindliche inklusive Strukturen die Spirale des Ausbrennens zum Stillstand bringen?

 
Montag, 17.11., 19 Uhr, Haus der Demokratie, Greifswalder Str.4
Innenansichten (Erfahrungsberichte) aus einer Werkstatt für Behinderte
(„Groucho“)

Bei vielen Beschäftigten in Werkstätten für Behinderte herrscht eine große Unzufriedenheit darüber, dass ihre Beschäftigung nicht als reguläres Arbeitsverhältnis anerkannt wird. Trotz der geleisteten hochwertigen Arbeit wird diesen Beschäftigten die nötige Anerkennung vorenthalten. Mit der Folge, dass die anerkannten arbeitsrechtlichen Formen zur Aushandlung einer gerechten Entlohnung, wie auch eines angemessen bezahlten Urlaubs, in den Werkstätten fehlen. Auch werden viele Beschäftigte mit bevormundenden Kontrollen bzw. Leistungskontrollen konfrontiert, die dann das Entgelt bestimmen. Die Frage der gerechten Entlohnung bildet darum ein zentrales Thema in den Werkstätten.

Die Beschäftigungsverhältnisse zielen zudem zunehmend ab auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt – unabhängig davon, für wie realistisch das die Betroffenen in den Werkstätten selbst halten.

 

3. Seminar

12./13.12.2014 im Kreativhaus Berlin

Fischerinsel 3, 10179 Berlin

(U2: Märkisches Museum, Busse: 147, 248)

 
Pflegepolitik und Alternativendiskussion zur Reihe
Freitag, 12.12., 19 Uhr:
Altenpflege und Zivilgesellschaft (Zur Rolle und Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements)
 (Joachim Maiworm)

Vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassen wird seit einigen Jahren in Teilen von Politik und Wissenschaft auch für den Pflegesektor eine verstärkte „Kultur des Helfens“ eingefordert. „Geteilte Verantwortung“ und „gesellschaftliche Koproduktion“ sind die Leitbegriffe des Zivilgesellschaftsdiskurses. Im Rahmen der ersten Veranstaltung soll die Frage diskutiert werden, ob das Konzept eines möglichst selbstbestimmten Lebens von pflegebedürftigen Menschen auf Basis eines neuen „Hilfemixes“ von professionellen Kräften, Angehörigen und freiwillig Engagierten wirklich trägt. Was ist von der Einwerbung eines stärkeren bürgerschaftlichen Engagements im Pflegebereich zu halten, gerade auch im Hinblick einer qualitativ guten Pflege für alle? Lässt sich die Tendenz einer intensiveren Einbindung auch von Erwerbslosen im Pflegebereich erkennen, gar eine zukünftige Arbeitspflicht für alle? Oder erfordert der Gedanke einer solidarischen Gesellschaft den Ausbau der unentgeltlichen freiwillig geleisteten Arbeit bei der Pflege und Betreuung von alten Menschen?

Autonomie trotz Hilfe- und Pflegebedarf im Alter
(Michael Zander)

Pflegebedürftigkeit im Alter wird gemeinhin nicht mit dem Begriff der Autonomie in Verbindung gebracht. Dahinter steht der Gedanke, dass Selbstbestimmung und die Abhängigkeit von Hilfe einander per Definition ausschließen. Insgeheim meint man, Autonomie sei im Alter ein zu hoch gestecktes Ziel. Der Vortrag argumentiert, dass Selbstbestimmung etwas anderes ist als Selbstständigkeit und als Quelle eines guten Lebens gerade in der Pflege ein wichtiges, emanzipatorisches Ziel wäre.

Michael Zander ist Dipl.-Psychologe, hat zum Thema „Autonomie bei (ambulantem) Pflegebedarf im Alter“ promoviert und arbeitet als freier Autor.

Samstag, 13.12., 13-18 Uhr

Was tun?

13-14:30 AG Phase

Klar und überzeugend ist häufig die Kritik an den herrschenden Verhältnissen – schemenhaft und unklar dagegen die Vorstellung von den Alternativen. In drei Arbeitsgruppen soll der Frage nachgegangen werden, wie es um die politischen Perspektiven und die praktische Suche nach den „anderen“ Wegen in den Bereichen Care, (Anti)Psychiatrie und (Nicht)Arbeit steht. Die AGs werden moderiert und mit einem kurzen Referat eingeleitet.

AG 1: Alternativen zur Psychiatrie

(Input: Anne Seeck)

Seit den 1970er Jahren wurde das medizinisch dominierte Psychiatriemodell der großen Anstalten zunehmender Kritik ausgesetzt. In den 80er Jahren entstand die gemeindenahe Sozialpsychiatrie, die in den 90ern ausgebaut wurde. Der Sozialpsychiatrische Dienst aber kann nicht als Alternative zur Verwahrpsychiatrie gesehen werden. Was aber sind dann Alternativen? Nach einer Darstellung der bekannten antipsychiatrischen Alternativen wie dem Weglaufhaus oder der Patientenverfügung soll über mögliche Alternativen debattiert werden.

AG 2: „Care Revolution“: Entstehung und Perspektive einer neuen sozialen Bewegung

(Input: N.N.)

„Sorgearbeit ist eine Bedingung menschlicher Existenz und Voraussetzung für die Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens. Ihre Ökonomisierung muss gestoppt werden. Statt Sorgearbeit ins Unsichtbar-Private zu drängen und denen aufzuhalsen, die am stärksten isoliert und am wenigsten in der Lage sind, sich zu wehren, gilt es sie zu einem zentralen Gegenstand politischer Aushandlung zu machen. Care ist ein Grundrecht und liegt in gesellschaftlicher Verantwortung.“ Ausgehend von diesem Zitat aus der Resolution der Aktionskonferenz „Care Revolution“ in Berlin  (März 2014) möchten wir über die Perspektiven der Care-Bewegung diskutieren.

15-16:30 Uhr

AG 3: „Anders arbeiten – oder gar nicht?!“

Möglichkeiten und Grenzen selbstbestimmten Arbeitens

(Input: Elisabeth Voss)

Vor 15 Jahren, im April 1999, diskutierten auf dem Kongress „Anders Arbeiten – oder gar nicht!?“ an der Berliner Humboldt-Universität einige Hundert Menschen über Perspektiven einer Gesellschaft ohne Erwerbsarbeit für alle. Nach der Ära Helmut Kohl gab es Hoffnungen auf eine lokale Wirtschaft, die genossenschaftlich und selbstverwaltet organisiert sein sollte, und in der die Menschen selbstbestimmt und sinnvoll tätig sein könnten. Der Workshop gibt einen Einblick in die Entwicklungen, die seitdem im Bereich anderen, selbstorganisierten Wirtschaftens stattgefunden haben, und stellt Möglichkeiten und Grenzen dieser Alternativen zur Diskussion.

17-18 Uhr Abschlussdiskussion

unterstützt von: Aktion Mensch

Veranstalter: Teilhabe e.V.

www.teihabe-berlin.de

Termin