Altenpflege und Zivilgesellschaft

Joachim Maiworm

Altenpflege und Zivilgesellschaft:

Zur Rolle und Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements

Politik, Fachwelt und Öffentlichkeit gehen von einer sich verschärfenden Versorgungslücke im Bereich der Altenpflege und -betreuung aus. Knappe finanzielle Ressourcen treffen demnach auf begrenzte personelle Kapazitäten. Die Anzahl der Pflegefälle steigt an, das Angebot an professionellen Pflegekräften bleibt beschränkt, das familiäre Pflegepotenzial erodiert. Ein Statement sticht hervor: Der bereits bestehende und weiter eskalierende Pflegenotstand ist nur mit Hilfe der Zivilgesellschaft, das heißt der Einbindung bürgerschaftlichen Engagements, zu bewältigen.

Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, inwiefern die ehrenamtliche Arbeit zu einer Lösung des Personalproblems beitragen soll und kann und welche Rolle den Langzeiterwerbslosen dabei zugedacht wird. Was ist in diesem Kontext von der vielfach beschworenen „neuen Kultur des Helfens“, der „geteilten Verantwortung“ oder dem „Wohlfahrtspluralismus“ zu halten?

„Geteilte Verantwortung“ als Bertelsmann-Projekt

Ein aktuelles Positionspapier klärt über eine strategische Perspektive auf, die sich als Alternative zum herrschenden Pflegesystem versteht und sich dabei selbst für alternativlos hält. „Den pflegepolitischen Reformstau auflösen! Paradigmenwechsel Teilhabe und gute Pflege trotz knapper Ressourcen“ lautet der Titel einer Stellungnahme, unterschrieben von Dr. Brigitte Mohn (Bertelsmann Stiftung), Dr. Jürgen Gohde (Kuratorium Deutsche Altershilfe), Prof. Dr. Thomas Klie (Evangelische Hochschule Freiburg) und Alexander Künzel (Bremer Heimstiftung/Netzwerk Soziales Neu gestalten – SONG). Nicht mehr Geld soll in die bestehenden Strukturen gepumpt, sondern die vorhandenen Mittel für Pflege und Teilhabe effizienter eingesetzt werden. Im Vordergrund stehen die Pflegevermeidung und eine konsequente Umsetzung des Prinzips „Vorrang der ambulanten vor der stationären Versorgung“. [1]

Nach diesem Konzept sind „neue lokale Verantwortungsgemeinschaften“ in den städtischen Quartieren bzw. Dorfgemeinschaften zu fördern, um einen „Hilfe-Mix“ aus Familien, Nachbarschaften, bürgerlichem Engagement und professionellen Dienstleistungen zu gewährleisten. Da solidarische Nachbarschaften nicht von selbst entstehen, soll ein professionelles Quartiersmanagement die Steuerung und Koordination der Hilfenetzwerke übernehmen. Voraussetzung für die Umsetzung dieser Ideen ist die Ablösung der zentralstaatlichen Steuerung der Pflege durch eine radikale Kommunalisierung auf Basis der Einrichtung regionaler Pflegebudgets. Der Zentralstaat steht demnach für die Bevorzugung der kostenträchtigen Heimunterbringung auf Basis der gesetzlichen Pflegeversicherung und für eine überbordende Bürokratie (Dokumentationspflichten, Pflegenoten-System usw.). Die dezentrale, lokale Versorgung garantiert dagegen effektivere Hilfearrangements, die „näher“ am Menschen sind.

Nach der Vorstellung der um die Bertelsmann Stiftung gruppierten Think Tanks und Pflegekonzerne sollen die Kreise bzw. kreisfreien Städte über monatliche Budgets aus Mitteln der Pflegeversicherung verfügen – zu bemessen an der Zahl der in der Region gemeldeten Pflegebedürftigen und dem jeweiligen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegestufen). Die Art und Weise der Versorgung (Angehörige, Heime, ambulant) bliebe allein in der Verantwortung der Kommunen und der organisierten Hilfenetzwerke. Der angestrebte Effekt der Pauschalvergütung bestünde darin, durch den Ausbau niedrigschwelliger Versorgungsformen finanzielle Anreize zur Vermeidung einer Heimversorgung zu setzen. Freiwerdende Mittel könnten im Budget verbleiben und zu einer weiteren Verbesserung der Pflegesituation genutzt werden. Ein Kernelement dieser Idee einer quartiersnahen ambulanten Versorgung stellt die Bereitstellung kostenloser oder zumindest billiger Arbeit im Rahmen haushaltsnaher Dienste bzw. von Betreuung und Pflege dar.

Gemeinhin werden drei Bevölkerungsgruppen identifiziert, deren Engagement-Potenzial erschlossen werden könnte: ältere Frauen („rüstige“ Rentnerinnen), Menschen mit Migrationshintergrund und Langzeiterwerbslose. Die familiäre Pflegebereitschaft von Menschen aus den migrantischen Communities gilt als ausgesprochen hoch, ihr öffentliches Engagement jedoch als notorisch unterdurchschnittlich. Die Langzeiterwerbslosen engagieren sich gemäß Expertenmeinung ebenfalls nur selten ehrenamtlich. Bertelsmann & Co setzen bei dem zu aktivierenden bürgerschaftlichen Engagement darum vor allem auf die noch leistungsfähigen älteren Menschen, denn diese personifizieren die „Chancen der demographischen Entwicklung“. Die Freiwilligenarbeit im Pflegebereich wird folglich von älteren für ältere Menschen geleistet. Nichts wirklich Neues also. Denn das „alte“ Ehrenamt im sozialen Bereich lag schon immer in den Händen von Frauen im höheren Alter. Pflegerische oder betreuende Tätigkeiten zeigen sich nur wenig anschlussfähig für das „neue“ Ehrenamt, das auf Mitgestaltung, Selbstverwirklichung und Eigensinn setzt.

Das gesellschaftliche Großprojekt der quartiersnahen Versorgung pflegebedürftiger Menschen, das im Rahmen eines Pflege-Mixes eine menschenwürdige Betreuung mit Kosteneffizenz verbinden soll, kann also nur auf einen sehr beschränkten Pool freiwillig engagierter Arbeitskräfte zurückgreifen. Das Potenzial scheint trotz aller Kampagnen tatsächlich weitgehend erschöpft zu sein. [2] Deshalb müssen Anreize geschaffen werden. Die Forderungen nach einem Ausbau der Monetarisierung des Ehrenamts sind darum seit Jahren immer lauter zu vernehmen. Im Ergebnis verflüssigt sich die Grenze zwischen Ehrenamt und regulärem Arbeitsmarkt. Die fehlende Trennschärfe zeigt sich in der Vielzahl von Arbeits- und Beschäftigungsformen im Pflegebereich. Man kann von einer regelrechten Zersplitterung des Beschäftigungssektors sprechen. Freiwillige und aus idealistischen Gründen geleistete unbezahlte Arbeit trifft auf bürgerschaftliches Engagement mit finanziellem Anreiz (Mehraufwandsentschädigung), erwerbsarbeitsähnliche Freiwilligendienste, Betreuungsassistenzen mit Kurzausbildung, freiberufliche Fach- und Assistenzkräfte, prekäre Teilzeitbeschäftigte mit „aufstockenden“ Leistungen („Hartz IV“), Ein-Euro-JobberInnen, legale/illegale/scheinlegale Migrantinnen, überforderte Angehörige. Die für den Systemumbruch in der Altenpflege notwendige „radikale Lokalität“ geht offenkundig mit einem verschärften Ausbau des Niedriglohnsektors Pflege und Betreuung einher.

Der Staat fördert den Pflege-Mix

Der Pflege-Mix, die Kombination von professioneller, familiärer/nachbarschaftlicher und ehrenamtlicher Arbeit, ist natürlich nicht neu, sondern bildet die Grundlage der Pflege, wie wir sie kennen. Aber der Gesetzgeber hat nicht zuletzt mit den letzten Gesetzesnovellen aktiv die Mischung der Arbeitsformen im Pflegebereich weiter forciert. Grundsätzlich gilt zwar schon immer, dass die Leistungen der Pflegeversicherung die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft von Angehörigen und Nachbarn lediglich „unterstützen“ soll (§§ 3 und 4 SGB XI). Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung wird als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ definiert (§. 8 SGB XI). Aber seit Inkrafttreten des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes 2008 wurde der Auf- und Ausbau von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten insbesondere für demenzkranke Pflegebedürftige sukzessive gefördert (§ 45 SGB XI: u.a. zur Finanzierung von  Aufwandsentschädigungen für zu aktivierende ehrenamtliche Betreuungspersonen).

Fließende Übergänge

Einige Beispiele für die Verschränkung von Erwerbsarbeit, ehrenamtlichem Engagement und der Tätigkeit von Erwerbslosen im Pflegebereich:

2012 beschloss die Bundesregierung, die Übungsleiterpauschale von 175 auf 200 Euro und die Ehrenamtspauschale von 500 auf 720 Euro zu erhöhen. Im April 2013 berichtete die Presse darüber, dass immer häufiger Minijobs und die Übungsleiterpauschale (die auch für Betreuungsleistungen im Pflegebereich gilt) kombiniert würden. In der ambulanten Pflege wird diese Konstruktion heute mehr oder weniger flächendeckend von den Wohlfahrtsverbänden und anderen Trägern eingesetzt. Dabei wird eine Tätigkeit im Minijob zugleich als ehrenamtliche Leistung ausgewiesen, um zusätzlich 2.400 Euro im Jahr abgabenfrei auszahlen zu können.

Anfang 2013 wurde nach Angaben der Pflege-Fachpresse das Projekt „Alltagsbegleiter“ in Sachsen eingeführt. Es gilt als das größte Vorhaben seiner Art in Deutschland. Alte Menschen, die zuhause leben und noch nicht pflegebedürftig sind, werden dabei auf Basis einer Aufwandsentschädigung und eines zweitägigen Einführungsseminars besucht und erhalten Unterstützung bei der Bewältigung ihres Alltags. 800 Begleiter in ganz Sachsen wurden seitdem eingesetzt. Alle waren erwerbslos. Nach offiziellen Angaben sollte deren Sozialkompetenz geschult und ggf. ihre besondere Befähigung für soziale Arbeit entdeckt werden. Seit 2014 steht der Besuchsdienst auch ehrenamtlich interessierten RentnerInnen offen.

Als arbeitnehmerähnliches Beschäftigungsverhältnis fungiert besonders der 2011 als Ersatz für den Wegfall des Zivildienstes eingeführte Bundesfreiwilligendienst. Er bildet ein Scharnier zwischen Bürgerengagement und Arbeitsmarkt. Hier können Menschen ohne Altersbegrenzung in der Regel für 12 Monate und maximal 357 Euro Aufwandsentschädigung in sozialen, ökologischen und kulturellen Bereichen „arbeitsmarktneutral“ tätig werden. Ein Großteil der „Bufdis“ sind Langzeiterwerbslose, die einen Einstieg in Erwerbsarbeit suchen und besonders im sozialen Bereich teurere reguläre Arbeitsplätze ersetzen. Vor allem in den ostdeutschen Ländern bilden sie im sozialen und pflegerischen Bereich ein Auffangbecken für vorher wegrationalisierte ältere weibliche Arbeitskräfte. In diesen Regionen sind deshalb sehr viele „Bufdis“ über 27 Jahre alt.

Seit der Pflegereform 2008 besteht die Möglichkeit, Betreuungsassistenten nach § 87b SGB XI zu beschäftigen. Es dürfen keine pflegerischen, sondern nur zusätzliche hauswirtschaftliche bzw. – wie die Bezeichnung verrät – betreuende Tätigkeiten verrichtet werden. Die Zielgruppe besteht aus Menschen mit Demenz. Die Qualifizierung dauert vier bis sechs Monate. Von fachkritischer Seite war die Klage über einen „Ausverkauf der sozialen Betreuung“ zu vernehmen. Die neu eingeführte Beschäftigung als Billiglohnberuf erinnere an die Einführung der Ein-Euro-Jobs, die ebenfalls zusätzlich sein sollten und zu Verdrängungseffekten führten. Die Erfahrung aus Heimen zeigte dagegen schnell, dass die Arbeitskräfte fast ausschließlich bei der Unterstützung von Alltagsnotwendigkeiten (z.B. Essenanreichen) eingesetzt wurden, Tätigkeiten, die bislang zum Aufgabenbereich der Pflege gehörten. Kunsttherapeuten, Ergotherapeuten wurden z.B. entlassen und genötigt, die Ausbildung zur Betreuungskraft zu machen, um dann zu weitaus schlechteren Konditionen als AlltagsbegleiterInnen wieder eingestellt zu werden. [3]

Zusätzlich arbeiten natürlich nach wie vor Tausende von Erwerbslosen im Rahmen von „Arbeitsgelegenheiten“ (Ein-Euro-Jobs) und als Pflegehelfer (mit und ohne Ausbildung) im ambulanten und stationären Pflegebereich.

Denkfabriken ebnen dem Niedriglohnsektor den Weg

Eine paradoxe Ausgangslage: Die verstärkte Einbindung der Zivilgesellschaft in die Pflege wird offen als elitebürgerliches Projekt „von oben“ betrieben. Die Bertelsmann Stiftung (eine gemeinnützige Organisation!) nutzt ihr Geld und ihre Medienmacht, um gegen jeden Versuch einer Umverteilungspolitik des Staates vorzugehen und wirbt im Gegenzug dafür, die entstehenden sozialstaatlichen Lücken und Löcher durch ein verstärktes bürgerschaftliches Engagement zu füllen.

Mit Blick auf den Pflegesektor wollen Bertelsmann & Co die professionelle Heimpflege auf das Notwendigste reduzieren, die ambulante Versorgung dagegen konsequent ausbauen. Die Prävention steht dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie entspricht der „Selbstsorge“, wobei der Staat über die Kategorie der „Selbstbestimmung“ die Verantwortung zunehmend auf die BürgerInnen überträgt. Angesichts abnehmender familialer Pflegepotenziale und der viel zitierten „demografischen Herausforderung“ wird der Verantwortungsdruck auf die BürgerInnen erhöht. Für das Netzwerk der Think Tanks gilt als nicht verhandelbare Prämisse, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates unwiderruflich an ihre Grenze gestoßen ist. Nicht der Kampf ums Geld, sondern nur der konsensorientierte Dialog zwischen Politik, Verwaltung, Sozialwirtschaft, Wohnungswirtschaft, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Akteuren kann demnach die Basis dafür bilden, die Herkulesaufgabe einer würdigen Altenpflege zu stemmen und damit dem Gemeinwohl zu dienen. Die großen gesellschaftlichen Bereiche – Staat, Wirtschaft, Bürgergesellschaft – haben sich in ihrer jeweiligen Handlungslogik zu respektieren und in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander zu agieren. Interessengegensätze sollen keine Rolle spielen. Insbesondere das bürgerschaftliche Engagement wird ökonomisch definiert bzw. für die Wirtschaftsinteressen funktionalisiert. Auch der Pflegesektor hat seinen Beitrag zum Wettbewerbsstaat zu leisten, indem er der Volkswirtschaft möglichst wenig kostet. [4]

Thomas Klie, Professor an der Evangelischen Hochschule Freiburg, Leiter des Freiburger Zentrums für zivilgesellschaftliche Entwicklung, Mitglied der Altenberichtskommission und Vorsitzender der zweiten Engagementberichtskommission der Bundesregierung – kurz: einer der führenden Sozialexperten in Deutschland –, vertritt ebenfalls offensiv das Konzept eines „Welfare-Mixes“, also eines Zusammenwirkens von Professionellen, Angehörigen und Ehrenamtlichen in der Pflege. In seinem aktuellen Buch „Wen kümmern die Alten?“ bezieht er sich lobend auf den ehemaligen CDU-Spitzenpolitiker und sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf. Er greift dessen Bekenntnis zum Subsidiaritätsbegriff auf und bestätigt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen als Voraussetzung für eine öffentliche Verantwortungswahrnehmung ein relevanter Vorschlag wäre. [5]

Ungesagt bleibt, dass für Biedenkopf eine staatliche Umverteilungspolitik einer „Entwöhnung von der Freiheit durch Vormundschaft“ [6] gleichkommt. Sorgen bereite ihm weniger die Einnahmeseite des Staates als die Ausgabenseite. Zwar hätten sich mit der Ausweitung der Märkte die Freiräume der Wirtschaft vergrößert, die finanzielle Basis des Sozialstaats hingegen sei nicht erweiterbar. Deshalb seien jetzt die „kleinen Lebenskreise“ am Zug, um den Sozialstaat, der das Subsidiaritätsprinzip außer Kraft setze, in seine Schranken zu weisen und die Menschen vom Prinzip der staatlichen Vormundschaft zu befreien. Auf der Grundlage dieser Situationsbeschreibung lässt sich ein bedingungsloses Grundeinkommen letztlich nur als nacktes Existenzminimum denken. Eine ausreichende materielle Voraussetzung für ein verantwortungsbewusstes soziales Engagement sieht sicherlich anders aus.

Auch die Macher der von der Robert-Bosch-Stiftung geförderten „Aktion Demenz e.V.“ in Stuttgart, die für neue Wege des Umgangs mit dementen Menschen, d.h. eine „neue Kultur des gegenseitigen Helfens“ streiten und entsprechende Projekte fördern, halten unmissverständlich fest, dass der Rückzug des Sozialstaats nicht aufgehalten werden kann. Und deshalb die Demenz als zivilgesellschaftliche Herausforderung anzunehmen ist. [7]

In die Liste derjenigen, die sich für eine menschenwürdige Pflege einsetzen, dabei aber die Arbeitsbedingungen der Helfenden ausblenden, gehört offenbar auch der mittlerweile über 80-jährige Klaus Dörner. Der Psychiater, Soziologe und Pionier der De-Institutionalisierung will mit einem Bürger-Profi-Mix in einem so genannten Dritten Sozialraum zwischen privaten und öffentlichem Sozialraum betreute Pflege-Wohngruppen schaffen und die Institution des Pflegeheims in absehbarer Zeit ersetzen. Pflege-Profis haben seiner Auffassung nach die Rolle als Unterstützer und Begleiter der Angehörigen, Nachbarn oder ehrenamtlich Pflegenden einzunehmen. Die informell Helfenden sollen den Pflegeprozess dominieren, nicht die Profis. Wie will er die notwendigen Arbeitskräfte für eine entprofessionalisierte und weitgehend entinstitutionalisierte Altenpflege mobilisieren? Erwartungsgemäß setzt auch er auf die Menschen (Frauen) im „dritten Lebensalter“ (ab 60. Lebensjahr), die sich für die hochbetagten Pflegebedürftigen engagieren sollen. Neben einer Vielzahl von bundesweiten Initiativen lobt er zudem das Projekt „Bürgerarbeit“, mit dem, so Dörner, das Städtchen Bad Schmiedeberg (Sachsen-Anhalt) ab 2006 Erwerbslose zu sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich (u.a. in Altenheimen) verholfen hätte, um damit die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. [8] Er ignoriert dabei allerdings den Workfare-Charakter des Modellprojekts und dessen zentrale Zielsetzung, die Erwerbslosen möglichst rasch in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren (unerwähnt bleibt auch das vorgeschaltete intensive mehrstufige Vermittlungs- und Auswahlverfahren: das umfassende Profiling und der Zwang zu verstärkten Bewerbungsbemühungen usw.). Dörner gefällt aber offensichtlich, dass im Non-Profit-Bereich viele kostengünstige Stellen geschaffen wurden.

Schlussfolgerungen

Die Instrumentalisierung der ehrenamtlichen Arbeit zur Stärkung des „Standorts Deutschland“, d.h. zur sozialverträglichen Flankierung des Sozialabbaus, bedeutet in der Konsequenz die Zerstörung des wirklich freiwilligen Engagements. So diskutiert momentan auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der freiwilligen Agenturen e.V. (bagfa) die problematische Seite der Monetarisierung im bürgerschaftlichen Engagement. In einem Positionspapier vom vergangenen Oktober kritisieren sie, dass die stundenbezogene Bezahlung im Ehrenamt zur Normalität würde, denn sie schade der Idee der selbstbestimmten, freiwillig gewählten Tätigkeit. Die Nachfrage nach einem bezahltem Ehrenamt in den Beratungen der Freiwilligenagenturen steige. Gerade im ländlichen Bereich gebe es einen immensen Bedarf an verbindlichen Unterstützungsleistungen von SeniorInnen. Hier brauche es vor allem eine deutliche Ausweitung an bezahlter, professioneller Tätigkeit. [9]

Und, so bleibt zu ergänzen, sozial abgesicherter Menschen, die bereit sind oder Lust haben, sich um alte Menschen zu kümmern.

Fazit: Um einen alltagsnahen Bezug zur näheren Wohnumgebung bzw. zum Quartier zu schaffen, ist in der Tat eine Einbindung in ein Netzwerk erforderlich, das neben Pflegediensten auch andere Professionen und Dienstleister (z.B. Mobilitätsdienste) sowie Angehörige und weitere engagierte Menschen umfasst. So weit haben Politik und Politikberatung recht. Bertelsmann und Co verschweigen allerdings, dass die Bereitschaft zum Engagement in denjenigen Gesellschaften am größten ist, die über ein gut ausgebautes staatliches Sozialsystem verfügen. Folgerichtig definieren sie gesellschaftliche Missstände zu Problemen der Gemeinschaft um. Die Ressourcen werden zwar im „Sozialen“ verortet, aber auf den sozialen Nahraum der Menschen begrenzt. Alternativ sollen mittels finanzieller Anreize einkommensarme Personen in die Betreuungsarbeit eingespannt werden. Unbezahltes und freiwillig geleistetes Engagement und schlecht honorierte Arbeit sollen ausgleichen, was an sozialer Politik versäumt wird. Die für die Problemlagen verantwortlichen politischen Rahmenbedingungen bleiben dagegen ausgeblendet.

Eine gute Pflege für alle bedeutet letztlich, dass mehr menschliche, zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen müssen. Denn jedes Moment von Selbstbestimmung geht dann verloren, wenn Heime oder WG zwar als „Gelddruckmaschinen“ für private (und gemeinnützige!) Unternehmen funktionieren, zugleich das Pflegepersonal überfordert ist und das aktive Engagement von Angehörigen, Freunden, Nachbarn oder anderer Menschen fehlt. Mehr Zuwendung für hilfeabhängige alte bzw. pflegebedürftige Menschen setzt aber einen veränderten politischen Kontext voraus.

Einzelne Bausteine einer alternativen Pflegepolitik könnten daher die folgenden Punkte sein, die zum Teil seit vielen Jahren in der linken Diskussion stehen:

Vollumfängliche steuerliche Finanzierung von Pflege und Betreuung statt „Teilkasko“-Versicherungsleistungen nach SGB XI.

Allgemeine radikale Arbeitszeitverkürzung als Voraussetzung für eine geschlechtergerechte Arbeitsteilung.

Einführung einer ausreichenden repressionsfreien Grundsicherung, damit alle unbezahlt in der Pflege und Betreuung Arbeitenden sozial abgesichert sind, mehr Menschen sich aus eigenem Antrieb engagieren und die Altersarmut verschwindet.

Legalisierung und rechtliche Gleichstellung der illegalisierten Migrantinnen in Privathaushalten.

Einrichtung gut bezahlter „regulärer“ Stellen zum Beispiel für Mobilitätsdienste anstelle von Maßnahmen für Erwerbslose, die unter Finanzierungsvorbehalt stehen, zeitlich befristet sind und auf Zwang beruhen (wie z.B. „Arbeitsgelegenheiten“ nach SGB II).

Förderung kollektiver Ansätze von Selbstorganisation, insbesondere bereits vor dem Beginn der Pflegebedürftigkeit (Genossenschaften, nutzerinitiierte WG usw.).

Anmerkungen:

[1] Nach einer Studie der Prognos AG im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ist eine Rückführung der stationären Versorgung von gegenwärtig 30% auf etwa 21% im Jahr 2020 machbar. Eine Reduzierung der Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung wäre dann um 10% und der Fachkräftelücke um 14% im Vergleich zu heute möglich. Als Voraussetzung dafür müssten die professionelle Pflege allerdings auf Menschen mit starken kognitiven und körperlichen Einschränkungen beschränkt, d.h. die häusliche Betreuung und gemeinschaftsbezogene Wohnformen massiv gesteigert werden.

Vgl.

http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/44_Pflege_vo...

[2] Das Beispiel der allseits favorisierten alternativen Versorgungsform „Ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz“ (WG) verdeutlicht dies. Sie funktioniert im Sinne von Teilhabe und Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen nur, wenn Angehörige, Nachbarn und Freiwillige aktiv mitmachen. Tatsächlich funktioniert sie aber nicht, denn offenkundig lässt sich das bürgerschaftliche Engagement nicht ausreichend aktivieren.

Zwei empirische Studien, die auf Befragungen in ambulant betreuten WG basieren, belegen diese Feststellung. Danach entsteht das Engagement von freiwilligen Helfern nur, wenn zuvor bereits ein Kontakt zu einem einzelnen Bewohner und zu einzelnen Angehörigen besteht. Die potenziell Freiwilligen müssen direkt angesprochen werden. Spontan meldet sich so gut wie nie jemand. Die Wahrscheinlichkeit eines Engagements ist zudem höher, wenn die Personen bereits im sozialen Bereich tätig waren oder sind.

Die Meinung befragter ExpertInnen bestätigt, dass bürgerschaftliches Engagement in WG nur eine „rare und seltene Pflanze“ ist.

(vgl.: Christine Schwendner, Bürgerschaftliches Engagement in ambulant betreuten Wohngemeinschaften, Frankfurt/Main, 2014, S. 266ff.)

Eine andere Studie, die Auskunft über die Situation von 572 BewohnerInnen aus 105 WG in Berlin gibt (Stichtag 30.1.2009), zeigt, dass in etwa 40 Prozent der Fälle Besuche seltener als einmal wöchentlich stattfinden. Ehrenamtliche engagieren sich danach lediglich in knapp der Hälfte aller WG.

(vgl. Karin Wolf-Ostermann/Andreas Worch/Johannes Gräske, Ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz. Entwicklung, Struktur und Versorgungsergebnisse. Berlin, 2012, S. 82.)

[3] Vgl. Barbara Narr, „Wider den Ausverkauf der sozialen Betreuung!“, in: Demenz.Leben, 17/2013;, S. 1-3.

[4] Folgerichtig bezeichnete der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, Jürgen Gohde, im Frühjahr 2013 das Konzept der Gewerkschaft ver.di zur Einführung einer Pflegevollversicherung („Vollkasko“) als illusorisch, denn die Arbeitgeberseite würde eine Beitragssatzerhöhung von über 0,1 Prozent nicht mittragen (vgl. Care konkret, 22.3.2013, S. 4). Prof. Thomas Klie bestätigt ihn. Auch seiner Meinung nach ist eine Vollkasko-Pflegeversicherung für alle nicht finanzierbar. Allerdings auch kulturell nicht zu wünschen. Denn die Solidarität einer Gesellschaft zeige sich in der Unterstützung von hilfsbedürftigen Menschen. Vgl. Thomas Klie, Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft, München, 2014, S. 233. (Stellt sich die Frage, was passiert, wenn die freiwillige Unterstützung ausbleibt und der Staat nicht eingreifen soll.) Weitere Anmerkung: Ver.di errechnet 7,4 Milliarden Euro an echtem Mehrbedarf (Nettoeffekt) für die Pflegevollversicherung. Der aktuelle Beitragssatz im Zuge einer Umstellung würde um 1,0 Prozentpunkte steigen (bezogen auf das Jahr 2010). Nicht finanzierbar?  

[5] Vgl. Thomas Klie, S. 169. Aufgaben sollen danach so weit wie möglich eigenverantwortlich übernommen werden, am besten vom Einzelnen bzw. von der untersten Ebene einer Gesellschaft. Oder in Biedenkopfs eigenen Worten: „Was der Einzelne aus eigener Kraft und Verantwortung zu leisten vermag, soll die nächsthöhere Gemeinschaft nicht an sich ziehen. Ebenso soll sie keine Aufgaben übernehmen, die von den kleinen Lebenskreisen gemeistert werden können.“ (Kurt Biedenkopf, Wir haben die Wahl. Freiheit oder Vater Staat, Berlin, 2011, S. 90).  

[6] Kurt Biedenkopf, S. 24.

[7] ] Vgl. Peter Wissmann/Reimar Gronemeyer, Demenz und Zivilgesellschaft – eine Streitschrift, Frankfurt/Main, 2008, S. 106.

[8] Vgl. Klaus Dörner, Helfensbedürftig. Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert, Neumünster, 2012, S. 89. Anmerkung: Im Rahmen der „Bürgerarbeit“ in Sachsen-Anhalt wurde in Abhängigkeit von den Qualifikationsanforderungen der Bürgerarbeitsstelle und für eine wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden ein monatliches Entgelt zwischen 675 und 975 Euro brutto gezahlt.

[9] Vgl. http://www.bagfa.de/aktuelles/archiv/2014/october/artikel/monetarisierun...

Literaturempfehlungen:

Anonyma, Endstation Demenz-WG? Zwei Jahre als Pflegehelferin, Hannover, 2014.

Rudolph Bauer, „Bürgergesellschaft als Bertelsmann-Projekt: Ein kritischer Bericht“, in: Ingo Bode/Adalbert Evers/Ansgar Klein (Hrsg.), Bürgergesellschaft als Projekt, Wiesbaden, 2009, S. 265-291.

Heinz-Jürgen Dahme/Norbert Wohlfahrt, Freiwilliges Engagement: Wer hilft hier eigentlich wem? Zur Rolle der Verbände in der aktuellen Engagementpolitik, in: Sozialmagazin, 10, 2010, S. 10-19.

Oliver Fehren, Wer organisiert das Gemeinwesen? Zivilgesellschaftliche Perspektiven sozialer Arbeit als intermediärer Instanz, Berlin, 2008.

Gisela Notz, Freiwilligendienste für alle: Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der „freiwilligen“ Arbeit, Neu-Ulm, 2012.

Claudia Pinl, Ehrenamt: Neue Erfüllung – neue Karriere, Regensburg, 2010.

Claudia Pinl, Freiwillig zu Diensten: Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeiter, Frankfurt, 2013.

AutorInnen