Klassismus

Andreas Kemper

Klassismus

Skript zum Vortrag Klassismus im Mehringhof/ Berlin /  15. 11. 2013

1. Was ist Klassismus?

Definition:

Klassismus

ist die gruppenkonstruierende Benachteiligung durch

Kulturimperialismus, Macht, Ausbeutung, Marginalisierung und Gewalt

aufgrund der sozialen Herkunft oder sozialen Position.

Klassismus

ist ein Begriff, der die Felder Diskriminierung und Klasse

zusammenführt. Diskriminierungen und Klassengesellschaft bestimmen sich

wechselseitig, Klassismus ist ein Bestandteil dieser Wechselseitigkeit.

Mit

Iris M. Youngs Vorschlag, gesellschaftliche Unterdrückung nach fünf

Gesichtspunkten zu unterscheiden („Five Face of Oppression“), lässt sich

der Herrschaftscharakter von Klassismus ebenfalls in fünf Aspekte

aufteilen: Ausbeutung, Gewalt, Macht, Marginalisierung und

Kulturimperialismus. Auf diese Aspekte wird im Folgenden eingegangen.

1.1 Ausbeutung

Dies

ist der wohl eindeutigste Aspekt, wenn von Klassen gesprochen wird. Was

zentral den Begriff der Klasse von Begriffen wie Schicht oder Milieu

trennt, ist die Behauptung von gesellschaftlichen

Ausbeutungsverhältnissen. Karl Marx definierte Klassen entlang des

Ausbeutungsaspektes: Das Proletariat enthält als Gegenwert für die

geleistete Arbeit nur das zurück, was es zur Wiederherstellung der

Arbeitskraft benötigt. Die Arbeit produziert aber mehr als nur eine

Entsprechung der Arbeitskraftreproduktion. Dieses Mehr an Produktion

nennt Marx den Mehrwert, um den das Proletariat betrogen wird, da die

Bourgeoisie sich diesen Mehrwert aneignet. Dies ist die typische Form

der Ausbeutung.

Zudem reproduziert sich die Verteilung der

Arbeitsplätze mit der größten Ausbeutung in Abhängigkeit von der

sozialen Herkunft: Arbeiter*innenkinder werden mit großer

Wahrscheinlichkeit einen Job erhalten, der im Niedriglohnsektor liegt

und mit wenig Prestige verbunden ist.

Ausbeutung findet aber auch

in anderen Bereichen statt. So leisten in gesellschaftlichen Gruppen

Menschen mit einer Arbeiter*innen-Herkunft oftmals Arbeiten, die

notwendig sind, aber keine gesellschaftliche Anerkennung nach sich

ziehen, während Menschen mit einer Herkunft aus

Akademiker*innen-Familien sich schnell zum Sprachrohr von Gruppen machen

und entsprechend profitieren. Diese Arbeitsteilung findet sich bspw. in

schulischen Elterngruppen, in Vereinen, in politischen Initiativen und

Parteien.

1.2 Gewalt

Die Entstehung der Klassengesellschaft beruht auf einen mehrere Jahrhunderte andauernden Prozess der Gewalt.

Das

mittelalterliche Gemeingut der bäuerlichen Dörfer, die Allmende, wurde

nach und nach aufgelöst und zu eingezäunten Privatbesitz. Für England

läßt sich nachweisen, dass Bauern und Bäuerinnen von ihrem Land

vertrieben wurden, um Platz zu machen für Schafherden. Dabei wurden

ganze Dörfer umgesiedelt in karge Gebiete. Um Arbeiter*innen für die

entstehenden Textilmanufakturen zu gewinnen, reichte jedoch die

Enteignung von der Subsistenzwirtschaft nicht aus. Mit äußerst brutalen

Vagabunden-Gesetzen in Kombination mit Arbeits- und Zuchthäusern wurde

nach und nach die Klasse der Fabrikarbeiter*innen geschaffen.

Hungerrevolten

und Streiks wurden oftmals mit brutaler Gewalt beantwortet. In der

Geschichte aber auch heute noch gehen Todesschwadronen gegen

Gewerkschafter*innen vor.

Bis in die 1960er Jahre hinein war es

Lehrkräften in Westdeutschland gestattet, Schüler*innen zu schlagen.

Betroffen hiervon waren in der Regel Arbeiter*innenkinder. Auch in

Kinderheimen, in denen vor allem Arbeiter*innenkinder untergebracht

waren, herrschte bis in die späten 1960er Jahre ein unvorstellbares

Regime der Gewalt und Erniedrigung.

Insbesondere Obdachlose sind

heute noch überproportional von Gewaltverbrechen bedroht. In den letzten

zehn Jahren wurden mindestens 180 Obdachlose ermordet. In einigen

Fällen war auch die Polizei durch Verschleppung von Obdachlosen und

durch unterlassene Hilfeleistung am Tod von Obdachlosen mitbeteiligt.

Inzwischen gibt es juristische Richtlinien, die die Gewalt gegen

Obdachlose als politisch motivierte Gewalt (hate crime) ernst nehmen.

Paradoxerweise werden allerdings die Vorurteilsstrukturen, auf denen

diese Gewalt beruht, nicht ernst genommen. In den Europäischen

Antidiskriminierungsrichtlinien sowie im Allgemeinen

Gleichbehandlungsgesetz finder klassenbezogene Diskriminierung (gegen

Arbeitslose, Obdachlose, Arbeiter*innenkinder) keine Erwähnung.

Während

Gewalttaten oftmals den sogenannten „unteren Schichten“ zugeschrieben

werden, bleibt die Gewalt aus der Mittelschicht oft unbenannt. Fast alle

Amokläufer kommen aus der Mittelschicht und auch der Massenmörder

Breivik ist in der gutsituierten Mittelschicht groß geworden und hat

gezielt über 70 junge Mitglieder einer Organisation der Arbeiterjugend

erschossen. Auch die nationalsozialistische Bewegung rekrutierte sich

vor allem aus dem Mittelstand, der in der Krise von

Deklassierungsängsten betroffen war.

1.3 Macht

In

allen Institutionen, die mit Macht verbunden sind, dominieren Menschen

mit einer sogenannten ^höheren sozialen Herkunft^. Die Offizierskorps

waren in der Regel vom Großbürgertum (Adel) besetzt, auch heute noch

waren die letzten beiden Verteidigungsminister (von Guttenberg, de

Maziere) aus dem Adel. Im Bundesparlament gibt es keine Politiker*innen,

die Arbeiter*innen sind und nur ein Bruchteil hat eine Herkunft aus der

Arbeiter*innenklasse. Wie der Elitenforscher Michael Hartmann nachwies,

sind auch in den Feldern Medien, Justiz und Wissenschaft nur sehr

wenige Menschen mit einer ^niedrigen sozialen Herkunft^ zu finden. Der

geringste Anteil von Menschen mit einer Arbeiter*innenherkunft ist in

den Spitzenpositionen der Wirtschaft zu finden.

Aber auch im

zwischenmenschlichen Bereich haben Menschen mehr Macht, je ^höher^ die

Herkunft ist. Pierre Bourdieu unterscheidet die verschiedenen Ressourcen

und Vermögen als „Kapitalsorten“: soziales, kulturelles, ökonomisches

und symbolisches Kapital. Hierzu später mehr. Vor allem in Insitutionen,

die mit Macht verbunden sind, fühlen sich Menschen um so wohler, je

^höher^ ihre Herkunft ist und umso unwohler je ^niedriger^ ihre Herkunft

ist.

Das Rechtssystem bestraft die wiederholte

Fahrkartenerschleichung im Innenstadtverkehr, wo es um Cent-Beträge

geht, härter als Steuerhinterziehungen in sechsstelliger Höhe.

1.4 Marginalisierung

Ausgrenzung,

Ausschließung, Segregation, Selektion und Marginalisierung sind

typische Aspekte der klassenbezogenen Diskriminierung. Im städtischen

Raum finden Verdrängungsprozesse statt. Sobald der Mittelschicht ein

Stadtteil attraktiv erscheint, in dem eher Arbeiter*innen leben, werden

diese an die Randzonen verdängt (Gentrifizierung). Besonders betroffen

sind Obdachlose, denen systematisch der Raum in der Innenstadt

verweigert wird.

Auch das Bildungssystem ist ein über

zahlreiche Stufen („Bildungsschwellen“) stattfindender Prozess der

Ausschließung von Arbeiter*innenkindern.

Eine klassenbezogene

Marginalisierung findet auch durch Literatur und Medien statt. Wenn über

die sogenannte ^Unterschicht^ berichtet wird, ist diese

„Berichterstattung“ oftmals stereotypisierend und ^abwertend^. Die

Perspektive der sogenanten ^unteren Schichten^ findet sich selten in

Literatur und Medien, sie sind häufiger Objekt als Subjekt der

Mitteilungen.

Diese Marginalisierung geschieht auch über

Denkmuster. Ein besonders mächtiges Denkmuster ist die Vertikalisierung.

Klassen werden entlang einer Vertikale verortet, wobei oben das Gute,

Aktive, Geistige und die Individualität angesiedelt ist und unten das

Schlechte, Passive, Materie und unförmige Masse. Die Marginalisierung

von der beherrschten Klasse ist also vertikalisiert, sie ist nicht

einfach nur außen, sondern mit einem Ort verbunden, der mit dem Bösen,

mit der Hölle identifiziert wird: ^Unterschichten^ kommen aus der

^Unterwelt^. Durch dieses jahrtausendealte Denkmuster erscheint es

plausibel, dass ^hohe soziale Herkunft^, ^Hochbegabung^, ^Hochschule^

und ^Hohes Einkommen^ zusammengehören. Genaugenommen gibt es kein ^hohes

Einkommen^. Einkommen können groß oder klein sein, aber nicht hoch oder

niedrig, es sei denn, man meint die Geldstapel (im Falle von Karl

Albrecht mit einem umgerechneten Vermögensgewinn von einer halben

Millionen Euro pro Stunde wären die Geldstapel tatsächlich hoch). Die

Stärke dieses Denkmusters zeigt sich darin, dass bereits die Begriffe

^Abwertung^ / ^Aufwertung^ das Unten als wertlosen und das Oben als

wertvollen Ort werten. Zuschreibungen wie Thilo Sarrazins „Deutschland

schafft sich ab“ verbinden die angebliche ^niedrige Intelligenz^ der

sogenannten ^Unterschicht^ mit dem drohenden ^Untergang^ der deutschen

^Hochkultur^. Um das Jahr 1930 erschienen in Deutschland eine Reihe von

Publikationen, die die deutsche Kultur vom ^Untermenschen^ bedroht

sahen. Zu den Publizisten gehörte der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg.

Der Nationalsozialismus zeigt, dass Marginalisierungen über

Ausgrenzungen und Ghettoisierungen auch in millionenfachen Mord

umschlagen können. Auch heute wird diese Ausgrenzung wieder im Zuge

einer eugenischen Denkweise praktiziert, wenn Thilo Sarrazin davon

spricht, dass sich das „Problem der Unterschicht“ „auswachsen“ müsse,

wenn der Gesundheitsminister Daniel Bahr sagt, dass in Deutschland „die

Falschen“ die Kinder kriegen, wenn mit dem Elterngeld eine qualitative

Bevölkerungspolitik umgesetzt wird, die dafür sorgen soll, dass mehr

Akademikerinder und weniger ^Unterschichtenkinder^ geboren werden

sollen.

1.5 Kulturimperialismus

Der Begriff

Kulturimperialismus meint im Zusammenhang mit Klassismus, dass die

herrschende (imperiale) Klasse über die Kultur der beherrschten Klasse

wacht, diese abwertet, ausbeutet und zerstört. Die Kultur der

Privilegierten definiert sich in Abgrenzung zur vermeintlichen

„Unkultur“ der Benachteiligten. Auch dies geht mit Vertikalismen einher,

die sich in Begriffen wie ^Hochkultur^ zeigen. Die Kultur der

Benachteiligten ist oftmals geprägt von einer widerständigen

Kreativität. Am Beispiel der Gentrifizierung lässt sich der

Kulturimperialismus zeigen: In Arbeiter*innenvierteln entstehen

Kunstszenen, diese wirken auf die kreative Mittelschicht attraktiv, die

dann in diese Viertel ziehen, nach und nach steigt durch diese

Attraktivität der Mietpreis, was dann zu einer Verdrängung der

proletarischen Bevölkerung führt. Typisch wäre in diesem Zusammenhang

die Kommerzialisierung jugendlicher Kultur aus den sogenannten ^unteren

Schichten^ wie Hiphop/ Rap. Auch für die Sprache gilt eine entsprechende

Abwertung, die unterschiedlichen Sprechweisen werden für sozial

selektive Zwecke instrumentalisiert. Zum Kulturimperialismus gehört

auch, dass die Mittelschicht „Soaps“ über die sogenannte ^Unterschicht^

inszeniert (das sogenannte „Lügenfernsehen“) und diese Produktionen so

gestaltet, dass der Fernsehkonsum dieses abwertenden

^Unterschichtenfernsehens^ dieser ^Schicht^ zudem noch zugeschrieben

werden kann.

2. Ungleichheiten in der Klassengesellschaft

2.1 Einkommen-, Vermögens- und Arbeitsverteilungsdifferenzen

Sehr

deutlich zeigen sich die Unterschiede der Klassengesellschaft in einer

sich immer weiter öffnenden sozialen Schere. Die Reichen werden immer

reicher, die Armen immer ärmer. Die Vermögensverteilung ist momentan so

ungleich, dass das reichste Zehntel über 60% am Gesamtprivatvermögen

besitzt, während die ärmere Hälfte faktisch kein Vermögen mehr hat (Die

Schulden des ärmsten Zehntel sind so hoch wie das marginale Vermögen der

beiden reicheren Zehntel der ärmeren Hälfte). Wenn man in der

sogenannten ^niedrigen Schicht^ geboren wurde, besteht eine große

Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden. Dies hängt u.a. mit dem

Bildungssystem zusammen.

2.2 Bildungsbenachteiligung

In

der Bildungsforschung wird von Bildungsschwellen gesprochen, die den

Zutritt zum jeweils nächst ^höheren^ Bildungsgang vorgelagert sind. Bis

zur Einschulung und dem Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe 1 ist

vor allem die primäre Benachteiligung von Arbeiter*innenkindern stark.

Damit ist gemeint, dass diese weniger Ressourcen zur Verfügung hatten,

um in der Schule die selbe Leistung bringen zu können, wie Kinder aus

Akademiker*innenhaushalten. Im Bildungssystem greifen dann allerdings

noch sekundäre Benachteiligungen, die sich mit den primären

multiplizieren. Sekundäre Benachteiligungen resultieren sowohl aus dem

Schulsystem als auch aus benachteiligendem Verhalten seitens der

Lehrkräfte. Hierauf wird später noch eingegangen. Auch für die

Hochschule lassen sich weitere sekundäre Benachteiligungen aufzeigen.

Studierende müssen bei der Wohnungssuche oftmals Elternbürgschaften

vorlegen und die soziale Herkunft entscheidet über die Vergabe von

studentischen Hilfskraftsstellen als auch über Stipendien: ^hohe soziale

Herkunft^ wird privilegiert.

Deutschland ist aber nicht nur ein

Staat mit einer extrem großen sozialen Selektion im Bildungssystem.

Erschwerend kommt hinzu, dass den Bildungsabschlüssen in Deutschland

eine größere Relevanz zukommt bei der Vergabe von Arbeitsstellen.

2.3 Ungleiche Gesundsheitschancen

Je

^niedriger^ der soziale Status ist, desto geringer sind die Chancen auf

Gesundheit und ein langes Leben. Zudem lässt sich nachweisen, dass die

Verweigerung von Anerkennung, wie sie vor allem auch im Bildungsystem

gegenüber Arbeiter*innenkindern auftritt, krank macht. Der Begriff

hierfür ist „Gratifikationskrise“. Das Gesundheitssystem in Deutschland

ist ein Klassensystem, welches zwischen Menschen ohne

Krankenversicherung, gesetzlicher Krankenversicherung und privater

Krankenversicherung differenziert. Dies macht sich vor allem dann

bemerkbar, wenn das Gesundheitssystem immer stärker nach ökonomischen

Gesichtspunkten ausgerichtet wird.

2.4 Klassenjustiz

Das

ist ein unschönes Wort. Dennoch muss konstatiert werden, dass

Steuerhinterziehungen in Millionenhöhe nicht in der selben Weise als

kriminell gelten und entsprechend geahndet werden, wie die

Fahrkartenerschleichung im einstelligen Eurobereich von Arbeitslosen und

Obdachlosen, die bei wiederholter Tat über Monate inhaftiert werden.

2.5 Partizipationsschere

1970

gab es kaum klassenbezogene Unterschiede bei den Parlamentswahlen.

Seither geht auch in diesem Bereich die Schere auseinander. Menschen aus

der sogenannten ^Unterschicht^ beteiligen sich immer seltener an

Wahlen, wobei Reiche nach wie vor von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.

Je ^tiefer^ die Ebene ist, auf der gewählt wird, desto seltener wählen

Menschen mit geringen Ressourcen.

3. Kapitalistische Vergesellschaftung

Wenn

die Menschen aus den sogenannten ^unteren Schichten^ immer seltener

wähler, häufiger erkranken, inhaftiert werden, aus der Bildung entfernt

und immer ärmer werden, so hängt dies mit der kapitalistischen Vergesellschaftung zusammen. Damit ist gemeint, dass in unserer bürgerlichen Gesellschaft

die kapitalistischen Produktionsbedingungen und -verhältnisse bedingen,

wie wir uns als gesellschaftliche Wesen konstruieren. Damit ist nicht

gemeint, das „der“ Kapitalismus oder „die“ Kapitalist*innen bestimmen,

wie wir zu denken und zu handeln haben, sondern dass der Kapitalismus

einen Möglichkeitsraum vorgibt und dass in dieser Gesellschaft alles in

einem bestimmten Licht erscheint, welches von den kapitalistischen

Produktionsbedingungen ausgeht. So sind die Produktionsverhältnisse

Zuschreibungsräume, in denen Strukturkategorien wie Geschlecht, Rasse,

Körper und Klasse zu Diskriminierungsformen werden, die unsere

Identitäten bestimmen und damit die Möglichkeiten bestimmten

Arbeitsplätze zu erhalten. Neben Sexismus (bzw. Heteronormativität),

Rassismus und Bodyismus (auf den Körper bezogene Diskriminierungen wie

Behinderten- und Altenfeindlichkeit) ist auch der Klassismus eine

entsprechende Diskriminierungsform, die den Zugang auf Arbeitsplätze und

Ressourcen steuert.

Diese Strukturkategorien bedingen unsere

Identitäten. Dabei überschneiden sie sich in der einzelnen Person. So,

wie sich aus den vier Farben des Vierfarbdrucks alle Farben drucken

lassen, kann sich aus den vier Strukturkategorien jede Identität

herausbilden. Unser Möglichkeitsraum im Sinne des

Nach-Möglichkeit-Seiendem ist nach Ernst Bloch daher durch die

Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt. Dennoch gibt

es immer wieder den Vorschein auf eine bessere Welt, die gegen die

diskriminierenden Zuschreibungen Tendenzen aufzeigen und konkrete

Utopien in den Bereich des In-Möglichkeit-Seienden rücken.

3.1 Soziale Herkunft nach Pierre Bourdieu

Klassismus

bezieht sich auf das Merkmal Sozialer Status. Dieser kann unterteilt

werden in Soziale Position (bspw. Langzeitarbeitslosen-Abwertung,

Diskriminierung von Obdachlosen) und Soziale Herkunft. Die soziale

Herkunft wiederum lässt sich messen an den Ressourcen, die einem in der

Kindheit zur Verfügung stehen. Pierre Bourdieu spricht von den

verschiedenen Kapitalsorten, die einem zur Verfügung stehen. Kapital ist

akkumulierte Zeit. Bourdieu unterscheidet zwischen ökonomischen Kapital

(Geld, Aktien, etc.), sozialem Kapital („Vitamin B“, soziales Umfeld,

etc.) und kulturellem Kapital. Das kulturelle Kapital kann wiederum

differenziert werden nach objektivem Kulturkapital (Bücher, Bilder,

heute auch Internetzugriffsmöglichkeiten, etc.), institutionalisiertem

Kulturkapital (Zertifikate, Bildungsabschlüsse, etc.) und inkorporiertem

Kulturkapital. Inkorporiertes Kulturkapital meint, dass der Körper mehr

oder weniger eine kulturelle Ressource ist, nicht nur in dem Sinn von

kulturell unterschiedlichen Tischsitten, sondern auch im Sinne von

körperlichem Wohl- („Fisch im Wasser“) und Unwohlsein (Stottern,

Erröten, Herzrasen, …) je nach dem Umfeld, in dem man sich bewegt.

Bourdieu spricht hier von „The sense of one's place“, dem Sinn dafür,

sich am richtigen Platz zu wissen.

Verwandt mit dem

inkorporierten Kulturkapital ist der Habitus. Nach Bourdieu ist der

Habitus eine grundlegende Art, wie ich mich gebe und wie ich die Welt

wahrnehme. Er ist damit eine „strukturierte“ und eine „strukturierende

Struktur“, ein „begriffsloses Erkennen“, das „Klassenunbewusste“. Der

Habitus wird in den ersten Lebensjahren geprägt und ist danach kaum noch

änderbar. Geschmack wäre bspw. in erster Linie eine Habitusfrage. Neben

dem Klassenhabitus existiert auch ein Geschlechterhabitus.

Auf

der Grundlage von Bourdieus Habituskonzept untersuchte Lars Schmidt

Habitus-Struktur-Konflikte von studierenden Arbeiter*innenkindern. Deren

Habitus stimmt oftmals nicht mit den Erfordernissen des akademischen

Feldes überein, welches Bourdieu als „scholastisch“ kritisiert. Dieser

Konflikt wirkt sich oftmals einseitig zu Lasten des Individuums aus,

welches als mangelhaft erscheint. Diese Struktur bezeichnet Mechthild

Gomolla als „institutionalisierte Diskriminierung“, die sie explizit an

Schulen feststellte zuungunsten von Migrant*innenkindern. Im

US-amerikanischen werden Studierende und Akademiker*innen als

„Straddler“ bezeichnet (von „to straddle“: spreizen), die sich mit einem

Bein in der Herkunfts- mit dem anderen Bein in der aktuellen Kultur

befinden.

Seit über einhundert Jahren wird das Protestverhalten

von Jungen aus der Arbeiterschicht im Schulsystem untersucht. Otto Rühle

sprach kurz nach der Jahrhundertwende in seiner Untersuchung „Zur

Psychologie des proletarischen Kindes“ von der „proletarischen

Protestmännlichkeit“ der Arbeiter*innensöhnen. Cirka siebzig Jahre

später untersuchte Paul Willis die Gegenkultur von Arbeiterjugendlichen

in seinem Buch „Spaß am Widerstand“. Diese Protesthaltungen und

Gegenkulturen haben ihre Berechtigung, sind aber nicht effektiv in der

Aufhebung klassistischer Benachteiligungen. Zielführender wäre eine

bewusst politische Selbstorganisierung von Arbeiter*innenkindern im

Bildungssystem.

3.2 Bildungsbenachteiligungen

Bei den

Bildungsbenachteiligungen kann zwischen politischen Vorgaben, die zur

Bildungsbenachteiligung führen, und den Effekten der

Bildungsbenachteiligung unterschieden werden.

Zu den politischen

Vorgaben zählt in der Bundesrepublik Deutschland ein Diskurswechsel. War

bislang die Chancengleichheit ein anzustrebendes Ziel in der

Bildungspolitik, so wird nun von Chancengerechtigkeit gesprochen. Die

Chancen sollen nicht mehr gleich verteilt sein, sondern gerecht. Der

Unterschied besteht darin, dass Arbeiter*innenkindern nicht mehr allein

Anspruch auf die Chance haben sollen, primäre Bildungsbenachteiligungen

im Bildungssystem auszugleichen, sondern sogenannte „Hochbegabte“ sollen

Chancen haben, sich vom Durchschnitt abzuheben. Der Diskurs der

Chancengerechtigkeit mit einer stärker differenzierenden Bildungspolitik

einher, die Eliteschulen, Elitehochschulen, Exzellenzcluster etc.

ermöglichen soll. Gesamtgesellschaftlich ist dieser Diskurs verbunden

mit einer Demografisierung der Sozialpolitik. Dieser schlägt sich bspw.

nieder in der „nachhaltigen Familienpolitik“. Erhielten bislang ärmere

Familien aus Erwägungen der Sozialkompensation Erziehungsgeld, reichere

Familien hingegen nicht, so wurde diese Zahlung mit dem Elterngeld

abgeschafft. Fortan erhalten nur noch die Familien Geld, die ein

Einkommen haben. Für geringverdienende Familien ist diese Politik

nachteilig, da das Elterngeld einkommensabhängig gezahlt wird und zwar

nur für ein Jahr. Dieser Regelung ging eine Diskussion voran, dass in

Deutschland „die Falschen“ die Kinder kriegen. Kinder aus ärmeren

Familien werden damit nicht nur bewusst schlechter gestellt, ihnen wird

auch verdeutlicht, dass sie „die Falschen“ sind. Begründet wurde das

Elterngeld vor allem damit, dass auf Deutschland ein

Akademiker*innenmangel zukomme und PISA gezeigt habe, dass vor allem

Akademiker*innenkinder studieren, weshalb man mehr

Akademiker*innenkinder benötige.

Eine weitere problematische

Vorgabe ist die Schuldenbremse. Diese ist nun verfassungsmäßig verankert

und wird vor allem in den Bundesländern zu sogenannten „Sachzwängen“

führen, die sich bildungspolitisch auswirken werden. Für Bildung

(Bibliotheken, Schulen, Hochschulen, VHS, etc.) wird in den nächsten

Jahren wenig Geld da sein, was zu einer Privatisierung von Bildung und

damit zu einer zunehmend zu bezahlenden Bildung führen wird.

Auf

der Hochschulebene hat sich vor allem der Bologna-Prozess nachteilig auf

Arbeiter*innenkinder ausgewirkt. Mit der Modularisierung ist es kaum

noch möglich, neben dem Studium zu erarbeiten, von dieser Arbeit haben

sich allerdings überproportional oft Arbeiter*innenkinder ihr Studium

finanziert. Mit den zeitlichen Straffungen entfällt für

Arbeiter*innenkinder im Studium das, was Steffani Engler die „zweite

Sozialisation“ nannte. Arbeiter*innenkinder brauchen oftmals eine

Eingewöhnungsphase für das ihnen fremd erscheinende akademische Feld.

Als drittes ist mit der Aufteilung des Studiums in Bachelor- und

Masterstudiengängen eine neue Bildungsschwelle entstanden, an der – wie

bei allen anderen Bildungsschwellen auch – Arbeiter*innenkinder

überproportional ausgesiebt werden. Beim Bologna-Prozess war auch die

Implentierung einer „Sozialen Dimension“ vorgesehen, mit der die oben

genannten Maßnahmen abgemildert werden sollten. Diese „Soziale

Dimension“ wurde allerdings nirgendswo umgesetzt, obschon dies sehr

einfach wäre (Landesmittel an Hochschulen könnten gewichtet (sozial

dimensioniert) werden, je nach Anteil der Studierenden mit ^niedriger

sozialer Herkunft^ die erfolgreich an den Hochschulen abschließen).

Auf die konkreten Bildungsbenachteiligungen wird an dieser Stelle nur stichwortartig eingegangen:

pränatal:

  • Elterngeld statt Erziehungsgeld

Kita:

  • Oft noch kostenpflichtig, faktisch kein Betreuungsgeld für ALG II

Grundschule:

  • bei gleichen Noten erhalten Arbeiter*innenkinder seltener Gymnasialempfehlungen (Hradil-Studie)
  • bei gleichen Leistungen erhalten Arbeiter*innenkinder seltener Gymnasialempfehlungen (LAU-Studien Hamburg, IGLU-Studien)
  • die Ungleichbehandlung kann nicht auf sekundäre Merkmale wie Mitarbeit, Neugier, Intelligenz zurückgeführt werden (WZB-Studie)
  • die

    primäre Benachteiligung wird nicht nur nicht ausgeglichen, sondern

    multipliziert sich mit einer sekundären Benachteiligung durch Lehrkräfte

    (Vodafone-Studie)

Sek I

  • die schulischen Kompetenzen von Haupitschüler*innen liegen zum Teil über denen von Gymnasiast*innen (TIMMS)
  • Nicht-Anerkennung von Leistungen kann zu psycho-somatischen Gratifikationskrisen führen

Sek II

  • Mit dem G8 ist es noch schwerer geworden, von der Haupt- oder Realschule zum Gymnasium zu wechseln.
  • 80% der Arbeiter*innenkinder mit Abitur wechseln nicht von der Schule zur Hochschule

Hochschule

  • Arbeiter*innenkinder studieren häufiger an Fachhochschulen
  • sie müssen häufiger neben dem Studium arbeiten und ihre Arbeit hat seltener mit dem Fach zu tun, welches sie studieren
  • um den knappen Wohnraum zu erhalten, müssen oftmals Elternbürgschaften vorgelegt werden
  • sie erhalten seltener Stipendien
  • sie erhalten seltener Jobs als studentische Hilfskräfte

Nach der Hochschule

  • eine

    Karriere in die sogenannte Elite ist nicht durch einen Doktortitel

    garantiert, sondern selbst nach einem Promotionsabschluss noch die

    soziale Herkunft ausschlaggebend.

4. Links und Literatur

4.1 Literatur

  • Tino Heim (2013): Metamorphosen des Kapitals.

    Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen

    Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu, Bielefeld
  • Andreas Kemper/ Heike Weinbach (2009): Klassismus. Eine Einführung, Münster
  • Gabriele Winker/ Nina Degele (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld
  • Iris M. Young (2011): Justice and the Politics of Difference, Princeton

4.2 Links

Zudem

gibt es einen E-Mail-Verteiler für Menschen mit sogenannter ^niedriger

sozialer Herkunft^ im akademischen Feld. Ansprechpartner ist Andreas

Kemper: andreas.erich.kemper(at)gmail.com

 

Andreas Kemper, Kontakt über http://andreaskemper.wordpress.com

Die Veranstaltungsreihe Klasse und Widerstand wurde untersützt von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt.

 

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