Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Perspektiven der Jugendlichen in Europ und im arabischen Raum
Die Situation und Perspektiven der Jugendlichen im europäischen und arabischen Raum sind grundverschieden, aber dennoch in einem Punkt ähnlich:
In den arabischen Ländern besagt die demographische Wahrheit, dass bis zur Hälfte, mancherorts sogar bis zu 60% der Bevölkerung, unter 25 Jahre alt ist. Bis 2020 müssen somit –gemäß einer Studie der UNO- sage und schreibe 51 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden, um der nachwachsenden Jugend Verdienstmöglichkeiten zu eröffnen. Und all das auf dem Hintergrund einer Wirtschafts-, Finanz-, Währungs- und Schuldenkrise, die immer neue Rationalisierungswellen auslöst – hin zu automatisierten, roboterisierten, lohnarbeitsarmen Produktionsweisen. Aber ohne Arbeitsplatz kein Einkommen. Ohne Einkommen keine Ehe, keine Wohnung, kein Status und keine Möglichkeit, die eigenen Eltern im Alter zu versorgen.
In den südlichen EU-Ländern erreicht die offizielle Jugenderwerbslosigkeit bis fast 50 % der Jugendlichen, obwohl deren Zahl infolge sinkender Geburtenraten dramatisch gering ist. Auch dort verhindert die jeweilige Struktur der gesellschaftlichen Produktion die Entstehung von Arbeitsplätzen. Und auch dort hängt -bei sozialer Sicherung auf niedrigem Niveau- die eigene Wohnung und die Familiengründung am auskömmlichen Einkommen.
Was ist das für ein System, das seinen wenigen Jugendlichen keine Perspektive bieten kann?
In Deutschland wiederum bleiben zahlreiche Ausbildungsstellen unbesetzt. Die Industrie und der Handel klagt über zu wenig Auszubildende – ebenso wie sie sich beklagen, es gäbe hierzulande einen Facharbeiter- und –vor allem im Ingenieursbereich- einen Mangel an Spezialisten. Deshalb möge man die Grenzen für FacharbeiterInnen und Hochqualifizierte entbürokratisieren und öffnen
Was verbindet diese verschiedenen Jugendperspektiven?
- Die große Mehrheit der Jugend der arabischen Länder hat unter den heutigen Bedingungen globaler Konkurrenz keine Chancen auf ein Auskommen im eigenen Land. Ihre bloße Zahl lässt irgendwann in naher Zukunft noch heftigere Kämpfe um Positionen und Stellen erwarten – zumal sozialstaatliche Sicherungen kaum oder gar nicht vorhanden sind.
Nur eine Minderheit der flexibelsten, anpassungs- und durchsetzungsfähigsten Jugendlichen, vor allem aus dem Milieu der Mittelschichten, werden zu Hause einen Arbeitsplatz finden oder auswandern.
- Dasselbe gilt für die -bezogen auf die Gesamtbevölkerung- relativ wenigen Jugendlichen des europäischen Südens. Aber selbst die kleine Zahl wird vor Ort keine Arbeitsstellen finden, und kaum welche, die der erworbenen Qualifikation entsprechen. Auch hier werden nur die flexibelsten, anpassungs- und durchsetzungsfähigsten Jugendlichen eine Stelle oder Position finden oder auswandern.
- In Deutschland findet die Mehrheit der Jugendlichen eine Stelle, aber noch lange keine Position, die ihren Neigungen und Fähigkeiten entspricht. Auch hierzulande werden nur die flexibelsten, anpassungs- und durchsetzungsfähigsten Jugendlichen ihre Lebensziele erreichen, entweder vor Ort oder im Ausland.
Alle Jugendbevölkerung verbindet somit, dass jeweils die flexibelsten, anpassungs- und durchsetzungsfähigsten Jugendlichen ihre Ziele, Stellen und Positionen teilweise oder ganz erreichen können.
Der Unterschied besteht darin, dass die Menge derer, die keinen Erfolg haben werden, unterschiedlich groß ist. Im arabischen Raum wird es die übergroße Mehrheit sein, im südlichen Europa die Hälfte oder eine starke Minderheit, und hierzulande wird es (noch) nur eine erhebliche Minderheit sein.
Problem: In der öffentlichen Debatte kommen die „nichtverwendbaren“ Jugendlichen nicht vor. Im arabischen Raum wurde lange gar nicht und wird jetzt auch nur zögerlich ihre Existenz wahrgenommen. Im europäischen Süden wird ihre Existenz verdrängt, und in Deutschland in der Regel geleugnet, verharmlost und verschwiegen. Und zwar sowohl von den Regierenden als auch von der „normsetzenden Mehrheitsbevölkerung“. Hierzulande könne nämlich jeder seines Glückes Schmied sein. So die Mainstream-Botschaft - stimmt aber nicht.
In den normsetzenden „Fachkreisen“ aber wird längst ein großer Teil der Jugendlichen abgeschrieben (und gelegentlich sickert das in die Medien durch).
Manchmal sind es ein Viertel, manchmal ein Drittel, gelegentlich sogar die Hälfte, die als „nicht ausbildungsreif“ be- und verurteilt werden.
Hierzulande vollzieht sich also eine paradoxe Entwicklung: Es gibt gleichzeitig zu wenige und zu viele Jugendliche: Zu wenige ausbildungsreife, aber zu viele Jugendliche, die nicht ausbildungsreif sind.
Aufschlussreich sind die Kriterien, nach denen deren „Verwendbarkeit“ beurteilt wird. Der Experten-Monitor des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) hat 2005 folgende Eigenschaften der Jugendlichen als unabdingbar bezeichnet. Sie umfassen die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit, nicht aber die berufliche Bildung. Jene kommt noch hinzu und wird gesondert ermittelt:
Die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit lauten:
- Zuverlässigkeit,
- die Bereitschaft zu lernen
- die Bereitschaft, Leistung zu zeigen
- Verantwortungsbewusstsein
- Konzentrationsfähigkeit
- Durchhaltevermögen
- Beherrschung der Grundrechenarten
- einfaches Kopfrechnen
- Sorgfalt
- Rücksichtnahme
- Höflichkeit
- Toleranz
- die Fähigkeit zur Selbstkritik,
- Konfliktfähigkeit
- Anpassungsfähigkeit
- die Bereitschaft, sich in die betriebliche Hierarchie einzuordnen.
Daraus ergibt sich: „Eine Person kann als ausbildungsreif bezeichnet werden, wenn sie die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit erfüllt und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in die berufliche Ausbildung mitbringt. Dabei wird von den spezifischen Anforderungen einzelner Berufe abgesehen, die zur Beurteilung der Eignung für den jeweiligen Beruf herangezogen werden (Berufseignung): Fehlende Ausbildungsreife zu einem gegebenen Zeitpunkt schließt nicht aus, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt erreicht werden kann.“
Diese Bestimmung der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit betrifft aber nicht nur die eingeborenen Jugendlichen. Sie betrifft alle, die nach Deutschland auswandern wollen.
Die „Lost Generation“ im herkömmlichen Sinne sind somit diejenigen Jugendlichen, die weder fähig noch bereit sind, die obigen mentalen Anforderungen zu erfüllen. Zweitens müssen sie diejenigen beruflichen Qualifikationen erworben haben, die der spezifische Arbeitsmarkt braucht.
Wer als weder mental noch beruflich „anschlussfähig“ ist, bleibt auf der Strecke und verliert sich im Off.
Wie reagieren nun Jugendliche auf diese paradoxe Situation des Unter- und gleichzeitigen Überangebots jugendlicher Arbeitskraft? Reagieren junge Frauen anders als junge Männern?
Gibt es eine Lösung? – oder wird die kapitalistische Lebens- und Wirtschaftsweise in einem Meer von Gewalt zusammenstürzen?
Jan wird anschließend zeigen, dass dieses „Lost im Off“ auch auf andere Weise ausgelegt werden kann.
[Es folgt der Input von Jan Köttner und danach das Brainstorming]