Sozialrassismus damals und heute

Anne Allex

Kurzfassung des Referates: Sozialrassismus damals und heute

(19.11.2016)

Rassismus und Sexismus entwickelten sich vor den frühesten Formen

des Kapitalverhältnisses und den damit zur jeweiligen Zeit

verbundenen Erscheinungen der industriellen Reservearmee. Die

Unterwerfung einkommensarmer Menschen wird als Biologismus,

Sozialdarwinismus, Wohlstands- chauvinismus, Klassismus,

Armendiskriminierung bezeichnet. Soziale Ausgrenzung von Einkom-

mensarmen und Rassismus scheinen auf den ersten Blick zwei völlig

verschiedene Phänomene zu sein. Jedenfalls wurde dies im Denken der

letzten 80 Jahre im Alltagsbewusstsein so konstituiert.

Vergegenwärtigen wir uns die engere Bedeutung von Rassismus, stoßen

wir unweigerlich auf unter- schiedliche „Wert“-Zuschreibungen von

Menschen und Menschengruppen.

Um die Jahrhundertwende entwickelte sich die Rassenhygiene als

Wissenschaft und wurde von Wissenschaftler*innen des gesamten

politischen Spektrums vertreten. Hitler formulierte zum Beispiel das

NS-Programm vom „gesunden Volkskörper“ 1924 in „Mein Kampf“.

Der NS-Ärzte- bund setzte sich seit 1929 für die „Sterilisation“

„Minderwertiger“ ein. Rosenberg 1930 verlangte im „Mythos des

20. Jahrhunderts“ die Sterilisierung „rückfälliger Verbrecher“.

Darrè teilte 1930 die Frauen nach „Wertigkeiten“ in vier Gruppen

ein, wobei die letzten beiden auf jeden Fall zu sterili- sieren

seien. 1930 propagierte H. Frank die „Tötung unwerten Lebens“.

Die politisch orientierte Rassenhygiene zerfiel in zwei Strömungen

– den anthropologischen (ethnischen) und den hygienischen

(eugenischen) Rassismus. Beide sind aber inhaltlich identisch und

stehen in engem, inneren, historischen und personellen Zusammenhang.

Grundkonsens des anthropologischen und eugenischen Rassismus war die

„Unwahrerklärung“ „der Behauptung von der Gleichwertigkeit der

Menschen“; die Eugenik direkt gleichbedeutend mit der

„Minderwertig- keitsproblematik“. Vertreter*innen beider

Rassismusbegriffe sahen eine enge Verbindung zwischen einer

„Werthierarchie von Völkern“ und einer „Werthierarchie von

Angehörigen eines Volks“ und zählten sich selbst in beiderlei

Hinsicht zu den „Wertvollen“. In Deutschland formulierte der

hygienische Rassismus diese „Wertlehre“ politisch: „Ungleicher

Wert, ungleiche Rechte“. 1

Die Rassenhygiene war um Wissenschaftlichkeit bemühte. Da

Darwin‘s „natürliche Auslese“ die Ursache von „Entartungen“

in der „Rasse“ sei, verfocht die antidarwinistische Rassenhygiene

politisch die „Gegenauslese“/„Kontraselektion“ durch

staatliche Eingriffe. Sie legte fest, dass die„natürliche Auslese“

nicht mehr gelte.2

Diese Revision begann im 19. Jhd. Mit F. Galton, W. Schallmayer und

A. Ploetz, die bei Männern und Frauen eines Teils der Gesellschaft

„Degenera- tionen“3

sahen. In dem die „Gegenauslese“ mit Darwins „geschlechtlicher

Zuchtwahl“ verknüpft wurde und als „Fortpflanzungsauslese“ in

den Mittelpunkt rückte, legitimierte sie später die

Sterilisationspolitik. Zudem bediente sich die Rassenhygiene

(Eugenik) der „Mendelschen Vererbungslehre physischer

Eigenschaften“ und übertrug sie aber auf alle seelischen,

geistigen und charakterlichen Eigenschaften des Menschen. Rüdin

fügte seelische und geistige Abweichungen der „normalen Variation

Mensch“ bzw. von Charaktereigenschaften überhaupt in genetische

Einheiten („Erbmasse“, „Idioplasma“). Die Rassenhygiene

interpretierte ebenso Mendels Hypothese vom „überdeckenden“

Erbmodus um: „Menschliche Anlagen können in der „Erbmasse“

vorhanden sein, ohne jedoch in Erscheinung zu treten.“

„Überdeckende Vererbung“ wurde dann angenommen, wenn

„vergleichbare“ Merkmale der „Bluts“-Verwandtschaft nicht

gehäuft oder gar nicht zu finden waren; so galten Menschen auch dann

als erbkrank, wenn sie „äußerlich“ gesund waren. 4

Das rassenhygienische Menschenbild drehte Mendels Erkenntnisse um –

der Mensch war nicht sein Erscheinungsbild (Phänotyp), sondern das,

was er der „Anlage“ („Erbbild“, „Genotyp“) nach war. Auf

der Metaebene wurden so „Erbströme“ konstruiert, die aus dem

„Volkskörper“ jeweils ausgeschieden oder in ihm verstärkt

werden sollten. Die angebliche Unabhängigkeit des konstruierten

menschlichen anlagebestimmten Wesens entwertete den menschlichen

Körper und legitimierte Eingriffe in Leib und Leben von Menschen im

Interesse einer überindividuellen „Bevölkerung“

(„Herren-Rasse“).

Nach Malthus‘s sei das Bevölkerungswachstum stärker als das

wirtschaftliche Wachstum und führe deswegen zur Verarmung und

Verelendung des Landes. Malthus empfahl die Geburtenkontrolle, doch

der rassenhygienische Diskurs zu Beginn des 20. Jhds. Präferierte

die Sterilisationspolitik als Hauptinstrument im Kampf gegen den

Geburtenrückgang, da sie den Anteil „wertvoller“ Geburten

anteilig anhöbe. Sie verfocht also die Geburtenauslese mit

Geburtenförderung und -vermeidung.Mit der Steigerung der

Gebärleistung der „Wertvollen“ wollte sie eine

„Rassenverbesserung“/ „Auf- artung“ für ein „kommendes

Geschlecht“ erreichen. Dem Sozialdemokraten Grojahn schwebte eine

„soziale“ Hygiene als „ein Mittel zur Reinigung der

menschlichen Gesellschaft von Kranken, Häß- lichen und

Minderwertigen“ vor, in der „die menschliche Fortpflanzung durch

die Eugenik in einem Grade der ärztlichen und hygienischen

Überwachung unterstellt wird, dass die Erzeugung und Fort- pflanzung

von konstitutionell körperlich oder geistig Minderwertigen

zuverlässig verhindert wird.“55

Der Rassismus entfaltet verschiedenste Erscheinungen, die

letztlich dasselbe beinhalten: Zum einen die vermeintliche Anziehung

von den zum Gemeinwesen als zugehörig angesehen Armen / Behin-

derten und zum anderen die Zurückweisung angeblicher Fremder; im

Kern aber grenzen sich Gesellschaften ausgehend vom Stereotyp des

wahren Armen und des falschen Bettlers von BEIDEN als imaginäre

ANDERE ab. Rassismus als eigenständige Erscheinung deutet die

„Rasse“ biologis- tisch als grundsätzlichen und bestimmenden

Faktor menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften und teilt die aus

ihrer Sicht verschiedenen „Rassen“ nach „Typen“ dem „Wert“

nach ein. Die zentra- le Kategorie des Rassismus ist deshalb die

„Minderwertigkeit“. Durch die Brille des Rassismus gelten

„Fremde“ also Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache,

Abstammung, Herkunft, Religion, anderen politischen Anschauungen und

anderen Geschlechts ebenso als „minderwertig“ wie Personen, die

krank, behindert oder einkommensarm sind. Wenn viele Menschen

„glauben“, dass sich Rassismus nur auf die ersteren bezöge, dann

übersehen sie, dass Rassismus sich immer gegen ALLE ANDEREN richtet.

Seinem Wesen nach zielt Rassismus nicht auf subjektiv wahrgenommene

Eigenschaften einer Gruppe bzw. Person, sondern verneint deren

Gleichrangigkeit und im Extremfall deren Existenzberechtigung.

Rassische Diskriminierung scheint zwar auf projizierte phänotypische

(äußerliche) und davon abgeleitete Gruppen- oder persönliche

(typologische) Unter- schiede zu verweisen, meint aber im Kern „die

Anlagen“. Rassismus schließt soziale Diskriminie- rung immer in

sich ein und kann deshalb in diesem Bezug auch als Sozialrassismus

tituliert werden.

Literatur:

Bock, Gisela. Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien

zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, MV Wissenschaft 2010.

Klee, Ernst, “Euthanasie” im NS-Staat, Frankfurt, 1983.

Kunstreich, Tim: Interview/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ...aber

zusammen (SB),

http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sori0008.html)

Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung,

Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Bund-Verlag,

Köln, 1982.

Rheinheimer, Martin: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der

Not. 1450 – 1850, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main,

Oktober 2000.

Sachße, Christoph und Florian Tennstedt: Geschichte der

Armenfürsorge in Deutschland. Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum

1. Weltkrieg, zweite Auflage, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Köln,

1980.

Schmitz, Adelheid. Sozialrassismus,

http://www.forena.de/2011/07/sozialrassismus-2/

 

1Bock,

Gisela. Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur

Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, MV Wissenschaft 2010, S. 65

2Dieselbe,

S. 31

3Zur

„Degeneration“ s. George L. Mosse, Rassismus, Königstein 1978,

S. 80

4Bock,

Gisela, a.a.O. S. 40

5Ebenda,

S. 354 ff.

 

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