Die globale Krise des Kapitalismus wirkt sich weltweit in unterschiedlichem Maße in einzelnen Staaten aus. Während – bezogen auf die europäischen Länder – besonders im Süden des Kontinents, Massenarbeitslosigkeit und Verelendung zunehmen, profitieren andere Länder (noch) von der Krise. Entsprechend verschieden gestalten sich der Widerstand vor Ort und die Debatten über Alternativen zum bestehenden kapitalistischen Gesellschaftssystem. Mehr oder weniger aktive Kämpfe im Arbeitermilieu, Versuche von Generalstreiks, Erwerbslosenproteste, Kämpfe von MigrantInnen, städtisch geprägte Initiativen für bezahlbaren Wohnraum und gegen Zwangsräumungen, die Okkupierung von öffentlichen Räumen und Plätzen sind nur einige Stichpunkte einer sich, aus unterschiedlichen Gründen etablierenden Bewegung gegen die Zumutungen eines autoritären Kapitalismus. Gleichzeitig entstanden und entstehen, insbesondere nach dem Scheitern des Staatssozialismus oder ähnlicher Varianten, zahlreiche alternative Gesellschaftsentwürfe, Ideen und Vorstellungen von einer anderen Welt. Weitgehend unbeeindruckt von diesen Entwicklungen zeigt sich der Sozialprotest in Deutschland. Weder gibt es innerhalb der Betriebe nennenswerte Aktivitäten, noch außerhalb davon bei denjenigen, die am stärksten von Krisenauswirkungen betroffen sind. Kleinere Ausstände und Aufstände führen hauptsächlich einen Abwehrkampf gegen schlechtere Arbeitsbedingungen, Kürzungen der Sozialleistungen oder für ein Recht auf Aufenthalt. Gleichzeitig gibt es aber auch Versuche, Kämpfe praktisch zusammenzuführen (Anti-Globalisierungsbewegung, Blockupy usw.) oder inhaltlich (Care-Revolution, Degrowth-Konferenz usw.) voranzubringen. Ansetzend an diesen Entwicklungen wollen wir eine Veranstaltungsreihe durchführen und den Zusammenhang von Krise, Alltagserfahrungen und möglichem Widerstand herausarbeiten, mit dem Ziel Erfahrungen und Einschätzungen sozialer Proteste zu vermitteln und die sich daraus ergebenen Konsequenzen zu diskutieren. Dabei interessieren uns Kämpfe innerhalb und außerhalb des Lohnarbeitssystems. Im Mittelpunkt stehen der Alltag und die Kämpfe von Erwerbslosen, prekär Beschäftigten und Flüchtlingen.
In vier Veranstaltungen soll deren politisches Aktivitätenensemble zwischen Lethargie, Überlebenskampf, listiger Resistenz und kollektiven Widerstand nachvollzogen werden, um dann in einer abschließenden Veranstaltung mit beteiligten ReferentInnen ein vorläufiges Resümee zu ziehen.
Erste Veranstaltung
Veranstalter: Bildungswerk Berlin der Heinrich- Böll-Stiftung, Realisiert aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin
Erwerbslose zwischen Lethargie, listiger Resistenz und kollektivem Widerstand
am Freitag, d. 24. April 2015 um 19 Uhr im Mehringhof, Gneisenaustr.2a
mit Harald Rein (Frankfurter Arbeitslosenzentrum) und Thilo Broschell (ehemals Erwerbslosen- und Jobberinitiative Schwarze Katze Hamburg, heute Stadtteilaktivist)
Galten Erwerbslose am Ende des 19. Jahrhunderts noch als „permanenter Unruheherd“, so ist es um diese zurzeit ruhig geworden. Harald Rein verdeutlicht, warum Erwerbslose nur in besonderen Augenblicken Geschichte schreiben. Sie führen aber tagtäglich einen individuellen Kampf um Würde und Anerkennung. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen leistet kollektiven Widerstand. Aufgabe der Behörden ist das permanente in Bewegung halten der Erwerbslosen, niemand soll über seine Zeit frei verfügen können, es sollen keine Freiräume entstehen. Hartz IV ist auch ein Angriff auf die Zeitsouveränität. Besonders unerwünscht für den Staat sind die FreiraumschafferInnen, die politisch aktiv werden und an vielen Aktivitäten der sozialen Bewegungen beteiligt sind.
Thilo Broschell referiert über das Thema: Vom Existenzrecht zum Wohnen mit Hartz IV. Er gibt einen kurzen Rückblick, um dann über aktuelle Kämpfe um Miete und Wohnraum in den letzten Jahren in Berlin zu berichten. Menschen mit geringem Einkommen sind in gewissen Abständen immer als handelnde Subjekte in Erscheinung getreten, um ihr Recht auf bezahlbaren Wohnraum durchzusetzen.
Zweite Veranstaltung
Veranstalter: Teilhabe e.V, Unterstützt von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt
Vom Protest zur Revolte?
am Freitag, d. 8. Mai 2015 um 19 Uhr im Mehringhof, Gneisenaustr.2a
mit Mag Wompel (labournet) und Anne Seeck (Teilhabe e.V.)
Mag Wompel wird über den Unterschied zwischen Protest und Revolte referieren, über die für den Protest bremsende Rolle der Abhängigkeit von Lohnarbeit und die Notwendigkeit der Sabotage des Kapitalismus im Alltag. Nach der Kritik am Fetisch Lohnarbeit werden praktische Konsequenzen für die Organisierung in dem Bereich folgen.
Anne Seeck war aktiv an den Erwerbslosen- und Anti- Hartz IV-Protesten von 1998 bis 2004 beteiligt. Zehn Jahre nach Einführung von Hartz IV spricht die herrschende Politik von einem Beschäftigungswunder und sorgt so für eine scheinbar „zufriedene“ Ruhe im Land. Welche Lehren lassen sich aus den damaligen Sozialprotesten ziehen und warum ist es gegenwärtig um die Sozialproteste so still? Muss der Erwerbslosenprotest nicht mit den aktuellen Kämpfen der Prekären, MieterInnen, Flüchtlinge usw. verknüpft werden?
Dritte Veranstaltung
Veranstalter: AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost West und Teilhabe e.V.
Intermittants - prekäre Kulturschaffende in Frankreich zwischen prekärer Lohnarbeit und Erwerbslosigkeit
am Donnerstag, d. 28. April 2015 um 19 Uhr im Mehringhof, Gneisenaustr.2a
Eine der wichtigsten sozialen Bewegungen im letzten Jahr in Frankreich war sicherlich die langandauernde Streik- und Boykottbewegung der prekären Kulturschaffenden. Angetreten unter der Parole " was wir für uns verteidigen, verteidigen wir für alle ", anknüpfend an diesselbe Parole der Eisenbahner im Massenstreik von 1995, versuchen sie ihre Lebens- und Arbeitsweise der ständig unterbrochenen, diskontinuierlichen Lohnarbeit zu verteidigen. Einerseits haben sie ihre prekäre Lohnarbeit bei Vorführungen auf Festivals, in Theatern und Opern, ihre kleinen und grossen kulturellen Events wie zum Beispiel die Festivals im Sommer 2014 in Avignon, Montpellier und anderswo, aber gleichzeitig haben sie ihre Vorbereitungszeiten, ihre schöpferischen Pausen, die nicht durch einen Lohnarbeitsvertrag abgesichert werden. Die Regelungen der Sozialversicherung garantieren Ihnen aber einen solidarischen Ausgleich. Der Ursprung des Gesetzes für die Kulturschaffenden datiert noch aus der Zeit der Volksfront 1936. Mit diesemVorhaben sollte gerade eine breite Kulturarbeit sichergestellt werden. Die Regierungen, linke wie rechte, zuerst 20O3, und jetzt die Regierung Hollande mit dem Verweis auf die von der EU- Kommission dekretierten Einsparmaßnahmen, haben 2014 ein neues Gesetzespaket durch das Parlament gebracht, das einschneidende Verschlechterungen für den Lebensalltag der Intermittents nach sich zieht.
Der Kampf dauert seit einem Jahr an, die Intermittants sind praktisch seit 2003 ein aktiver Teil der rebellischen Lohnarbeit, der auch gerade durch seine Aktionsformen, durch seine Kultur der Versammlungen, durch sein öffentliches Auftreten ein wirklich sozialrebellisches Milieu geschaffen hat. Wir wollen leben und arbeiten, aber würdevoll. Sie haben eine lebendige solidarische Kultur geschaffen. Sie haben nicht nur dekonstruiert, sondern auch konstruiert. Organisationsformen sind einerseits Gewerkschaften wie die sud-Culture und die cgt-spectacle, aber auch die Koordinationen ( cip) , die diese Bewegung zusammenfassen ohne sich feste institutionelle Strukturen zu schaffen. Im labournet.de sind sehr viele Berichte aus den verschiedenen Kampfesphasen erschienen, im labournet.tv gibt es packende Filme und Videos über diesen Kampf.
Die gegenwärtige Regierung versucht mit allen Mitteln gerade die gesellschaftliche Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung voranzutreiben, in die noch weiter verschärfte Prekarisierung mit dem Ziel, die Menschen dazu zu bringen, jede noch so beschissene Arbeit anzunehmen und sich diesen neuen Gegebenheiten vollkommen unterzuordnen, sich zu unterwerfen und sich selbst aufzugeben.
Vierte Veranstaltung
Veranstalter: Teilhabe e.V, Unterstützt von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt
Prekäre zwischen Erwerbslosigkeit und Lohnarbeit – Ansätze von Widerstand in und außerhalb der Betriebe
am Mittwoch, d. 10. Juni 2015 um 19 Uhr im Mehringhof, Gneisenaustr.2a
mit VertreterInnen von „gas“und FAU Foreigners
In Spanien nahmen sich die Menschen ihre Plätze am 15. Mai 2011 zurück und es entstand die M15-Bewegung. In ihren Versammlungen (asambleas) wurden Arbeitsgruppen (comisiones) gebildet, die sich sofort, praktisch und theoretisch, den drängendsten Aufgaben widmeten. Spanier_innen, die aufgrund der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit auswandern mussten, griffen die Idee der asambleas und comisiones an ihren neuen Lebensorten auf. Auch in Berlin wurden gemäß der Anforderungen der neuen Realität comisones gebildet. Eine comision kämpft gegen die Probleme und Alltagsbedingungen der Neuberliner_innen im Arbeitsbereich. Sie nennt sich ''gas“, „grupo de acción sindical“(„Gruppe gewerkschaftlicher Aktionen“). Nachdem einige Menschen aus Spanien, Griechenland und Irland, die bei dem Amadeus Hostel für Unterkunft und 100 Euro Taschengeld gearbeitet hatten, versuchten, aufstockendes Hartz IV zu beantragen, wurde dieses erst einmal abgelehnt. Es bildete sich eine Hostelgruppe, die die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung zum Thema machten. Sie suchten andere Hostels auf, um mit den Beschäftigten dort ins Gespräch zu kommen und gemeinsam zu überlegen, wie man bessere Bedingungen durchsetzen kann. Viele von ihnen haben sich der FAU Foreigners Section angeschlossen und unterstützen nun den Kampf von rumänischen Bauarbeitern, die bei dem Bau der Mail of Berlin um ihren Lohn geprellt wurden.
Fünfte Veranstaltung
Veranstalter: Teilhabe e.V, Unterstützt von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt
Krise, Alltag, Widerstand - zwischen Wunsch und Realität!
am Freitag, den 26. Juni 2015 um 19 Uhr im Mehringhof, Gneisenaustr.2a
mit Harald Rein, Willi Hajek, Thilo Broschell und N.N. (Flüchtlingsproteste)
Trotz immanenter Krise, trotz vieler kleinerer Aufstände in anderen europäischen Ländern, trotz Blockupy usw., der Widerstand in Deutschland gegen kapitalistische Zumutungen und soziale Verschlechterungen ist marginal und in keiner Weise massenwirksam. Die geringe Präsenz der Sozialproteste steht in einem direkten Zusammenhang mit der Zersplitterung der Kämpfe. Aus verschiedenen Gründen (politische Borniertheit, individuelle Überlastungen etc.) verwehrt der fehlende Blick über den eigenen Tellerrand inhaltliche Zugänge, Überschneidungen und Bezugspunkte zu anderen Teilbereichskämpfen. Wie sind die Kämpfe in den Städten, etwa von MigrantInnen, oder von MieterInnen einzuschätzen, wie hat sich die Occupy-Bewegung entwickelt, wo gibt es Ansatzpunkte für einen qualitativen/quantitativen Sprung der Krisenproteste? Welche Alternativen spielen innerhalb der Protestbewegung eine Rolle, z.B. Ansätze einer solidarischen Ökonomie, die Commons-Debatte, soziale Infrastruktur als Alternative zum Sozialstaat, die Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen usw. Darüber wollen wir zum Abschluss der Veranstaltungsreihe mit den Podiumsgästen diskutieren!